Das zwanzigste Jahrhundert sollte für das Judentum des östlichen Europa monumentale Veränderungen und noch nie dagewesene Herausforderungen mit sich bringen. Diese Geschichte wird hier durch sechs Stimmen jüdischer Frauen erzählt, deren Leben stark vom turbulenten Verlauf dieses Jahrhunderts geprägt wurden.
Text
Obwohl der Holocaust die jüdische Geschichte des 20. Jahrhunderts in Europa als große Zäsur überschattet, begannen sich Veränderungen in der jüdischen Welt schon deutlich früher abzuzeichnen. Trotz allem bedeutete der Holocaust nicht das Ende der jüdischen Geschichte dieser Region. Durch das Jahrhundert führen uns sechs Stimmen jüdischer Frauen verschiedener Generationen. Sie gewähren uns durch ihre einzigartige, intime Perspektive einen Einblick in die jüdische Erfahrung im östlichen Europa im 20. Jahrhundert.
Assimilation
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Die Wende zum zwanzigsten Jahrhundert barg für jüdische Frauen nie dagewesene Möglichkeiten. Der bessere Zugang zu Bildung, die Emanzipation und die fortschreitende Assimilation ermöglichten es vielen jüdischen Frauen, führende Positionen unter anderem in künstlerischen, literarischen und akademischen Kreisen zu erreichen. Einige von ihnen setzten sich aktiv für diesen Wandel ein und bezogen öffentlich Stellung zu jenen Themen, die Frauen besonders betrafen. Eine von ihnen war Irena Krzywicka, die 1899 als Goldberg in eine assimilierte Familie jüdischer Linksintellektueller hineingeboren wurde. Nach ihrem Abschluss in polnischer Philologie an der Universität 
Warszawa
deu. Warschau, eng. Warsaw

Warschau ist die Hauptstadt Polens und zugleich die größte Stadt des Landes (Bevölkerungszahl 2022: 1.861.975). Sie liegt in der Woiwodschaft Masowien an Polens längstem Fluss, der Weichsel. Warschau wurde erstmals Ende des 16. Jahrhunderts Hauptstadt der polnisch-litauischen Adelsrepublik und löste damit Krakau ab, das zuvor polnische Hauptstadt gewesen war. Im Rahmen der Teilungen Polen-Litauens wurde Warschau mehrfach besetzt und schließlich für elf Jahre Teil der preußischen Provinz Südpreußen. Von 1807 bis 1815 war die Stadt Hauptstadt des Herzogtums Warschau, einem kurzlebigen napoleonischen Satellitenstaat; im Anschluss des Königreichs Polen unter russischer Oberherrschaft (dem sog. Kongresspolen). Erst mit Gründung der Zweiten Polnischen Republik nach Ende des Ersten Weltkriegs war Warschau wieder Hauptstadt eines unabhängigen polnischen Staates.

Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde Warschau erst nach intensiven Kämpfen und einer mehrwöchigen Belagerung von der Wehrmacht erobert und besetzt. Schon dabei fand eine fünfstellige Zahl an Einwohnern den Tod und wurden Teile der nicht zuletzt für seine zahlreichen barocken Paläste und Parkanlagen bekannten Stadt bereits schwer beschädigt. Im Rahmen der anschließenden Unterdrückung, Verfolgung und Ermordung der polnischen und jüdischen Bevölkerung wurde mit dem Warschauer Ghetto das mit Abstand größte jüdische Ghetto unter deutscher Besatzung errichtet, das als Sammellager für mehrere hunderttausend Menschen aus Stadt, Umland und selbst dem besetzten Ausland diente und zugleich Ausgangspunkt für die Deportation in Arbeits- und Vernichtungslager war.

Infolge des Aufstandes im Warschauer Ghetto ab dem 18. April 1943 und dessen Niederschlagung Anfang Mai 1943 wurde das Ghettogebiet systematisch zerstört und seine letzten Bewohner verschleppt und ermordet. Im Sommer 1944 folgte der zwei Monate dauernde Warschauer Aufstand gegen die deutsche Besatzung, in dessen Folge fast zweihunderttausend Polen ums Leben kamen und nach dessen Niederschlagung auch das restliche Stadtgebiet Warschaus von deutschen Einheiten weitgehend und planmäßig zerstört wurde.

In der Nachkriegszeit wurden zahlreiche historische Gebäude und Teile der Innenstadt, darunter das Warschauer Königsschloss und die Altstadt, wiederaufgebaut - ein Prozess, der bis heute andauert.

 sollte sie zu einer der wichtigsten feministischen Schriftstellerinnen und Aktivistinnen in 
Polen
eng. Poland, pol. Polska

Polen ist ein Staat in Mittelosteuropa, ein Mitglied der Europäischen Union. Unter dem heutigen Namen ist das Land seit dem 10. Jahrhundert bekannt.

 werden. Ihre Veröffentlichungen, zu Themen wie etwa der weiblichen Sexualität, reproduktiven Rechten und dem sicheren Zugang zu Abtreibung, brachten ihr den Ruf einer der umstrittensten und skandalösesten weiblichen Stimmen des Jahrhunderts ein. In ihrer im Alter von 93 Jahren verfassten Autobiografie zeichnet sie das Bild eines glücklichen, aufregenden und erfüllten Lebens einer Frau auf dem Zenit ihrer Karriere, deren Leben durch den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs erschüttert worden war.


Ich lebte ein sehr langes Leben ... Ich durchlebte alle erdenklichen Unglücke, den Holocaust selbst zwar nicht, aber ich verlor an ihn fast alle, die ich liebte. Man sagt über mich, ich sei ein Star gewesen. Ein Star der Salons. Ich galt als hübsch; ich führte ein interessantes und farbenfrohes Leben. Ich hatte wunderbare, treue Freunde, die ich innig liebte. Antoni Słonimski war einer von ihnen, dann Jarosław Iwaszkiewicz ... Auch Tadeusz Boy-Żeleński spielte eine große Rolle in meinem Leben. Er war mein Maitre a penser, mein Lehrer und Mentor. Das Amüsante und eigentlich Paradoxe war, dass ich fast die gesamte polnische Schule der Mathematik kannte ... Ich habe so viele Menschen in meinem Leben gekannt... Ich kannte nicht nur polnische Schriftsteller, sondern auch viele französische Literaten ... Ich kannte Papst Johannes XXIII. Nach dem Krieg ... hatte ich fast alle meine Verwandten verloren; ich wandelte auf Gräbern. Ich dachte, ich würde es nicht überleben, ich würde nicht weiterleben können ... Aber ich lebe noch, verdammt noch mal, und ich lebe weiter und lebe weiter.
 

Irena Krzywicka zit. n. Agata Tuszyńska: Krzywicka. Długie życie gorszycielki, Kraków 2011, 31–34
Der Holocaust
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Der Holocaust zerstörte das Leben sowohl der assimilierten als auch der traditionellen Jüdinnen:Juden. Zuzanna Ginczanka (Sara Polina Gincburg) ist eine der ergreifendsten weiblichen Stimmen, die über die Angst, den Verlust und den Verrat der osteuropäischen Juden während des Holocausts berichtet. Sie wurde 1917 in 
Kyjiw
deu. Kiew, eng. Kiev, eng. Kyiv, pol. Kijów

Kiew liegt am Fluss Dnepr und ist seit 1991 Hauptstadt der Ukraine. Nach der ältesten russischen Chronik, der Nestorchronik, wurde Kiew erstmals 862 erwähnt. Es war Hauptsiedlungsort der Kiewer Rus‘, bis es 1362 an das Großfürstentum Litauen fiel, das 1569 Teil der polnisch-litauischen Adelsrepublik wurde. 1667 kam Kiew nach dem Aufstand unter Kosakenführer Bogdan Chmel'nyc'kyj und dem darauf folgenden polnisch-russischen Krieg zu Russland. 1917 wurde Kiew Hauptstadt der Ukrainischen Volksrepublik, 1918 der Ukrainischen Nationalrepublik und 1934 der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik.
Bezeichnet wurde Kiew auch als „Mutter aller russischen Städte“, „Jerusalem des Ostens“, „Hauptstadt der goldenen Kuppeln“ und „Herz der Ukraine“.
Im russisch-ukrainischen Krieg ist Kiew stark umkämpft.

Aufgrund des Krieges in der Ukraine ist es möglich, dass diese Informationen nicht mehr dem aktuellen Stand entsprechen.

 geboren. Um eine Karriere als Dichterin zu beginnen, zog sie schon in jungen Jahren nach Warschau. Nach dem Einmarsch der Nazis in Polen 1939 flüchtete sie nach 
Lwiw
deu. Lemberg, pol. Lwów, eng. Lviv, rus. Lwow, rus. Львов, yid. Lemberg, yid. לעמבערג, ukr. Львів, ukr. L'viv

Lwiw (deutsch Lemberg, ukrainisch Львів, polnisch Lwów) ist eine Stadt in der Westukraine in der gleichnamigen Oblast. Mit knapp 730.000 Einwohner:innen (2015) ist Lwiw eine der größten Städte der Ukraine. Die Stadt gehörte lange zu Polen und Österreich-Ungarn.

Aufgrund des Krieges in der Ukraine ist es möglich, dass diese Informationen nicht mehr dem aktuellen Stand entsprechen.

, wo sie sich bis 1942 verstecken konnte, bis sie von einer Polin, Zofia Chomin, denunziert wurde. Es gelang ihr zu fliehen und sie zog nach 
Kraków
deu. Krakau

Krakau ist die zweitgrößte Stadt Polens und liegt in der Woiwodschaft Kleinpolen im Süden des Landes. In der Stadt an der Weichsel wohnen ungefähr 775.000 Menschen. Die Stadt ist bekannt für den Hauptmarkt mit den Tuchhallen und der Wawel-Burg in der Altstadt Krakaus, welche seit 1978 zum UNESO-Welterbe gehört. In Krakau liegt die älteste Universität Polens, die Jagiellonen-Universität.

, wo sie erneut denunziert, verhaftet und 1944 schließlich hingerichtet wurde. Eines ihrer bekanntesten Gedichte, "Non omnis moriar", handelt von der Plünderung ihrer persönlichen Habe nach ihrer ersten Verhaftung. Es ist eines der ergreifendsten Dokumente der nichtjüdischen Mitschuld an der völkermörderischen Enteignung und Gewalt, die während der Nazi-Besatzung ganz Ostmitteleuropa erfasste.


„Non omnis moriar“

Non omnis moriar - meine stolzen Güter,
Tischdeckenwiesen, Festungen standhafter Schränke,
die Weiten der Bettlaken, sehr kostbares Bettzeug
und Kleider, helle Kleider bleiben von mir zurück.
Ich habe hier keinen Abkömmling hinterlassen,
so soll deine Hand in jüdischen Dingen wühlen,
Chominowa, aus Lwów, eines tücht‘gen Spitzels Frau,
Denunziantin flink, eines Volksdeutschen Mutter.
Dir, den Deinen lass sie dienen, denn wozu Fremden?
Ihr meinen - da ist keine Laute, kein eitler Nam’.
Ich werde an euch denken, denn als die Schupo kam,
habt ihr auch an mich gedacht. Sie an mich erinnert.
Lass meine lieben Freunde beim Zechen nur sitzen
und mein Begräbnis und eig’nen Reichtum begießen:
Kelims und Wandteppiche, Schüsseln und auch Leuchter - 
Lass sie die ganze Nacht trinken und im Morgenrot
nach Edelsteinen und Gold zu suchen beginnen
in Kanapees, Matratzen, Bettdecken, Teppichen.
O, wie ihnen das Werk in den Händen brennen wird,
ein Durcheinander von Rosshaaren und Meeresgras,
Schwaden aufgeschlitzter Kissen, Wolken von Daunen
an ihren Händen haftend, statt Armen jetzt Flügel;
mein Blut ist es, das Werg mit frischen Daunen verklebt
und die Beflügelten jäh in Engel verwandelt.
 

Zuzanna Ginczanka: Non omnis moriar. In: Von Zentauren – und weitere ausgewählte Gedichte. Aus dem Polnischen übers. v. Bernhard Hofstötter u. Hanna Kubiak. Hamburg 2021.
Die Leere nach dem Holocaust
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Als 1944 die Rote Armee nach Westen vorrückte, wurden die ersten osteuropäischen Schtetls befreit, und die ersten jüdischen Überlebenden, die sich in Verstecke, zu Partisaneneinheiten oder ins sowjetische Hinterland gerettet hatten, kehrten nach Hause zurück. Die Bilder von Leere und Verwüstung, die ihre Berichte vermitteln, lassen die überwältigende Tragödie erahnen, die zahllose jüdische Gemeinden in der Region ereilte, aber auch die Bemühungen der Überlebenden, die Gräueltaten zu erinnern und sie zu dokumentieren. Für die meisten osteuropäischen jüdischen Überlebenden war ein Leben in den Ruinen ihrer Vorkriegs-Schtetl unmöglich. Zwischen 1945 und 1947 verließen rund 150.000 Jüdinnen:Juden, das sind zwei Drittel der überlebenden jüdischen Bevölkerung nach dem Krieg, allein Polen und zogen nach Palästina, in die USA und an andere Orte.1 Auch Sara Bilianko und Yocheved Piven aus der Stadt 
Berezne
pol. Bereźne, rus. Beresno, ukr. Березне, deu. Beresne, pol. Jędrzejów, ukr. AndrÌv, ukr. Андріїв

Beresne ist eine Stadt (Bevölkerungszahl 2022: 13.126) im Nordwesten der Ukraine. Sie liegt in der historischen Landschaft Wolhynien. Vor dem Zweiten Weltkrieg war es mit 94,6 % der Ort mit dem höchsten Anteil an jüdischer Bevölkerung im damaligen Polen.

 (heutige Ukraine) entschieden sich für den Weg der Emigration. Die im Jahr 1984 in Israel veröffentlichte Chronik (yizkor bukh) ihres Schtetls erinnert an den Moment ihrer ersten Rückkehr in ihre Heimatstadt nach dem Krieg.


Als sich im November 1944 die Partisanenkämpfer den russischen Befreiern anschlossen, wurden wir aus den Partisanen entlassen und nach Kiew geschickt. Während der Befreiung von Berezne durchquerten wir mehrere Städte in Wolhynien. Als wir Berezne erreichten, konnten unsere Augen nicht fassen, was sie sahen - die Stadt war verwaist und bar jeglichen jüdischen Lebens. Schrecklich und unbeschreiblich die Verheerungen - die Häuser, in denen zuvor Juden gewohnt hatten, waren jetzt entweder verlassen oder zerstört - jene, die noch intakt waren, von Fremden bewohnt. Es ist unmöglich, diese Stadt wiederzuerkennen, die noch fünf Jahre zuvor in voller Blüte gestanden hatte. Wir fragten nicht, wo die Juden abgeblieben waren - unsere Väter, Brüder, Schwestern. Als wir uns in den Ruinen der verwaisten Stadt umsahen, wussten wir – etwa vierzig Juden –, dass ihre Gebeine in Gruben, in großen Löchern, verscharrt lagen. Doch wir hatten Angst, diese Orte allein aufzusuchen. Erst als ein jüdisch-russisches Regierungskomitee die Gräber inspizieren kam, gingen auch wir zu den Ruhestätten unserer Väter und Kinder. Wir fanden ein dem Erdboden gleichgemachtes Stück Land vor, ohne die geringste Spur eines Grabhügels. Wir hoben den Boden ab und entdeckten ein Massengrab – bis zum Rand mit männlichen Leichen gefüllt. Die Leichname lagerten in Schichten übereinander, zwischen ihnen befand sich Kalk. Rundherum, an den Rändern der Gräber, befanden sich weitere Leichen, sitzend. Im zweiten Grab lagen Frauen begraben, fast in derselben Position. Im dritten Grab fanden wir die Skelette von Kindern. Da lagen unsere Eltern und lieben Verwandten nun, denen die bösen Männer brutal das Leben geraubt hatten – an diesem Tag zerbarsten uns allen die Herzen. Nach Ende der Inspektion bauten wir die Gräber mit unseren eigenen Händen von Neuem auf. Wir schichteten etwas Erde um sie herum und errichteten ein Tziun [Denkmal], ohne Gewissheit, ob es erhalten bleiben würde. Wir standen um die Gräber herum – gebrochen vergossen wir stille Tränen. Nachdem wir das Kaddisch gesprochen hatten, verließen wir diesen Ort. Die Geschichte von Berezne hatte ihr Ende gefunden. 

In: G. Bigil (ed.): Mayn shtetele Berezne. Tel Aviv 1984, S. 161. Translated from Hebrew by Yechiel Weizman.
Jüdisches Leben in der Nachkriegszeit
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Nur wenige jüdische Überlebende entschieden sich nach dem Krieg, in Ostmitteleuropa zu bleiben. Wenn sie es taten, zogen es sie häufig in die Großstädte, wo sie sich Zugang zu den verbliebenen jüdischen Strukturen und bessere Chancen auf soziale Mobilität erhofften. Traumatisiert durch die Erfahrung des Holocaust und den anhaltenden Antisemitismus der Nachkriegszeit legten viele ihre frühere jüdische Identität ab und assimilierten sich vollständig in die sozialistische Nachkriegsgesellschaft. Nur eine kleine Minderheit von Juden führte ihr Leben in den ehemaligen Schtetls fort. Da das jüdische religiöse Leben vor allem in der 
Sowjetunion
eng. Soviet Union, rus. Sovetskiy Soyuz, rus. Советский Союз

Die Sowjetunion (SU oder UdSSR, Russisch: Союз Советских Социалистических Республик (СССР) war ein von 1922 bis 1991 bestehender Staat in Osteuropa, Zentral- und Nordasien. Die UdSSR wurde von ungefähr 290 Millionen Menschen bewohnt und bildete mit ca. 22,5 Millionen Quadratkilometern den größten Flächenstaat der Welt. Die Sowjetunion war eine sozialistische Räterepublik mit einem Einparteiensystem.

 stark eingeschränkt wurde und Orte des jüdischen Gemeinschaftslebens wie Synagogen und Friedhöfe in der gesamten Region umfunktioniert wurden, suchten die osteuropäischen Jüdinnen:Juden nach neuen Wegen und Orten, um ein Gefühl der Gemeinschaft zu erleben. Abgesehen vom Kontext innerhalb der Familien waren die einzigen gemeinschaftlichen Praktiken, welche die Jüdinnen:Juden der Nachkriegszeit mit der jüdischen Welt außerhalb ihrer Wohnorte verbanden, die Gedenkfeiern zu den Massenerschießungen, bei denen Überlebende und deren Kinder aus verschiedenen Teilen der Sowjetunion und manchmal auch aus dem Ausland zusammenkamen. In 
Іўе
pol. Iwie, yid. איוויע, yid. Iwje, lit. Yvija, rus. Ивье, bel. Iwye, rus. Ive

Iwie ist eine Stadt (Bevölkerungszahl 2022: 7.243) und ein ehemaliges Shtetl im Westen von Belarus. Der Ort wurde erstmals 1444 erwähnt. Iwie gilt als die Stadt mit dem höchsten Anteil an tatarischer Bevölkerung im Land. Das Städtchen zeichnete sich auch historisch durch ein Miteinander verschiedener Ethnien und Religionen aus.

 (heutiges 
Belarus
bel. Belarus', rus. Белоруссия, deu. Weißrussland, bel. Беларусь, eng. Belarus

Belarus ist ein von ungefähr 9,5 Millionen Menschen bewohnter Staat im östlichen Europa. Die Hauptstadt und bevölkerungsreichste Stadt des Landes ist Minsk. Nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 ist der Staat unabhängig. Belarus grenzt an die Ukraine, Polen, Litauen, Lettland und Russland.

) bildete der Jahrestag des Massakers vom 12. Mai 1942 einen Höhepunkt des jüdischen Lebens in der Stadt. Tamara Baradach, 1949 in einer gemischten jüdisch-nichtjüdischen Familie geboren, erinnert sich, wie dieser Tag begangen wurde:


Für uns Kinder waren die Tage des 11. und 12. Mai ein Feiertag, auf den wir uns immer freuten ... Das war der Tag, an dem all jene, die überlebt hatten, nach Iŭje kamen. Wenn sie sich unterhielten, dann lauschte ich dieser Sprache, die ich nicht verstand, Jiddisch ... All diese Überlebenden bei uns zu Hause! ... Für uns war es, wie wenn die Familie zu Besuch kommt, denn wir alle hatten ja keine Familien mehr. Die polnischen Kinder gingen in die Kirche, die tatarischen Kinder in die Moschee, und wir? Wir gingen nirgendwo hin, nur in das Kulturzentrum in der ehemaligen Synagoge. Wir feierten auch keine Feiertage. Es gab nur diesen einen Tag im Jahr, an dem wir trauerten und zugleich ein wenig Freude empfinden konnten, weil unsere Familie zu Besuch kam ... Meine Mutter und mein Vater riefen all diese Überlebenden "iungl", "unsere iungl". In unserer Jugend dachten wir immer, sie seien unsere Onkel. Wir sprachen auch so mit ihnen. Wir dachten, das seien die Brüder unseres Vaters. In Wirklichkeit waren sie die Überlebenden von Iŭje. Wenn sie zu meiner Mutter sprachen, nannten sie sie Tante Nyura, obwohl sie genauso alt waren wie sie. Sie wollten sie einfach "Tante" nennen, weil sie keine Familien mehr hatten: keine Tanten, keine Onkel, keine Eltern. Sie waren alle in derselben Grube begraben.
 

Tamara Baradach wurde im Jahr 1949 geboren. Das Interview hat im Rahmen des Forschungsprojekts “Mapping the Archipelagos of Lost Towns” Ina Sorkina am 08.07.2020 und 21.12.2020 geführt. Das Projekt ist von der Gerda Henkel Stiftung gefördert worden.
Emigration
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Das prekäre jüdische Leben, das sich im östlichen Europa der Nachkriegszeit wieder etablieren konnte, wurde immer wieder durch Ausbrüche antisemitischer Gewalt aus der Bevölkerung oder durch die antisemitischen Kampagnen der sozialistischen Machthaber gestört. Am einschneidendsten äußerte sich dies im Jahr 1968 in Polen, als nach dem Sechstagekrieg eine Welle von Studentenprotesten einen antijüdischen Aufruhr auslöste, der mindestens 15.000 polnische Jüdinnen:Juden ins Exil trieb. Janina Bauman, 1926 als Lewinson in Warschau geboren, gehörte zu jenen Menschen, die sich in dieser Zeit gezwungen sahen, Polen zu verlassen. In ihren Memoiren beschreibt sie detailliert die Stimmung der Angst, welche die antijüdischen Äußerungen der Funktionäre der KP in jener Generation von Juden auslösten, die noch Erinnerungen an den Holocaust besaßen.


Der letzte Tag im Januar 1968 sollte den Beginn einer bedeutenden Zäsur in meinem Leben und dem meiner Familie markieren, auch wenn wir uns dessen damals noch nicht bewusst waren. An diesem Tag beschloss die Zensur, die Theateraufführung von Adam Mickiewiczs Totenfeier im Nationaltheater abzusagen. Dies löste eine Welle von stürmischen Protesten unter Studenten und Intellektuellen aus ... Die Studenten ... forderten das Recht auf freie Meinungsäußerung und protestierten gegen die Zensur und die staatlichen Sicherheitsorgane. Sie verurteilten außerdem den Rassismus der offiziellen Propaganda, die die Proteste vor allem jüdischen Studenten in die Schuhe schob. Am 19. März fand am Abend ein Treffen von Władysław Gomułka mit Parteiaktivisten statt. Das Fernsehen übertrug die Sitzung live ... Schließlich kam es zu dem Punkt, auf den die Öffentlichkeit seit Beginn der Sitzung zu warten schien. „Letztes Jahr, während der israelischen Aggression gegen die arabischen Staaten, zeigte eine Reihe von Juden den Willen, nach Israel zu gehen und sich dem Krieg gegen die Araber anzuschließen. Es besteht kein Zweifel, dass diese Kategorie von Juden – polnische Staatsbürger – sich weder emotional noch rational mit Polen, sondern vielmehr mit Israel verbunden zeigt. Für diejenigen, die Israel als ihr Heimatland betrachten, sind wir bereit, Auswanderungspässe auszustellen.“ Ein Raunen ging durch den Saal. ... Beifall, Fußstampfen und Ausrufe: "Nieder mit den Zionisten" und ... "Euer Ende ist nah, packt eure Koffer" übertönten den Rest der Rede. Die Atmosphäre in der Kongresshalle begann plötzlich stark nach einem Pogrom zu riechen. Die Angst ergriff Besitz von uns. In einer Minute wird die Versammlung zu Ende sein und die Parteiaktivisten werden saufen gehen. Der Mob wird die Straßen Warschaus verlassen, um sich mit den Zionisten anzulegen, mit dem vollen Segen der Partei. ... Wir gerieten in Panik. ... Meine Töchter sammelten alle schweren oder scharfen Gegenstände zusammen, die wir besaßen – einen massiven Aschenbecher, das einzige scharfe Messer, einen hölzernen Kopf eines afrikanischen Kriegers mit einem Stachelhelm und ein paar robuste Kochtöpfe. Der Anblick dieses Arsenals amüsierte uns damals, obwohl wir eigentlich nichts zu lachen hatten.
 

Janina Bauman, Nigdzie na ziemi: Powroty: Opowiadania, Łódź: Wydawnictwo Officyna, 2011, 147-156.
Jüdisches Revival
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Die Auswanderungswelle nach 1968 führte nur zu weiterem Niedergang des jüdischen Gemeinlebens in Polen. Viele jüdische Einrichtungen – Schulen, Wohlfahrtsverbände, Verlage und Theater – wurden geschlossen. Viele der verbliebenen Jüdinnen:Juden lebten ein völlig assimiliertes Leben. Aus Angst vor antisemitischer Verfolgung, verbargen sie ihre jüdische Identität – oft sogar vor ihren Ehepartnern und Kindern. Mit der Zeit jedoch begannen immer mehr polnische Jüdinnen:Juden, die in säkularisierten oder vollständig assimilierten Familien aufwuchsen, ihren Familiengeschichten nachzuforschen, sich über das Judentum zu informieren und ihre jüdische Identität zu entdecken. Die 1978 geborene Autorin und Filmemacherin Katka Reszke ist eine von ihnen.


Als ich etwa sechzehn Jahre alt war, begann ich, "jüdisch zu werden". Ich las alles, was ich auf Polnisch und Englisch über Juden und das Judentum finden konnte. Zuhause und in der Schule sprach ich oft über Juden und das Judentum. Meine Freunde in der Schule begannen, mich als Jüdin zu bezeichnen. ... Ich entdeckte, dass meine Urgroßmutter eine Reihe von wunderlichen Ritualen und Bräuchen praktizierte. Niemand wusste, was sie zu bedeuten hatten. Erst als ich begann, mich mit dem Judentum auseinanderzusetzen, konnte ich ihnen einen Sinn abgewinnen. Ohne mich jetzt in Details verlieren zu wollen, gehörten zu den "wunderlichen" Dingen, die meine Urgroßmutter zu tun pflegte, die Trennung von Milch- und Fleischspeisen und die Befolgung strenger Regeln beim Backen von Challah-Brot. Darunter befanden sich auch die Gesetze der Hafraschat Challah – das Entfernen eines Stückchens vom Teig und das Bedecken der beiden Challah-Brote mit einem Tuch. Auf alle Fragen ihrer Kinder und Enkelkinder zu den obskuren Regeln hatte sie nur diese schwer verständliche Antwort parat: "Das ist nur ein Brauch." Sie kannte die Bräuche von ihrer Mutter - meiner Ur-Ur-Großmutter - und wir vermuten heute, dass es vielleicht diese Ur-Ur-Großmutter war, die dafür Sorge trug, dass es schließlich gelang, das jüdisch-Sein der Familie erfolgreich zu vertuschen. Sie konnte nicht wissen, dass ich ein paar Generationen später auftauchen und ihre Pläne durchkreuzen würde. Letztlich hatte Urgroßmutter nicht ganz Unrecht, als sie mich meshuggeneh nannte, was auf Jiddisch "verrückt" bedeutet... Mit Anfang zwanzig wanderte ich nach Israel aus, wo ich fast fünf Jahre lang bleiben sollte... Als weitgehend säkularer Mensch verblüffe ich auch heute noch viele Juden und Nicht-Juden damit, dass ich viele jüdische Rituale ausführe, dass ich am jüdischen Feiertag Sukkot die "vier Arten" schüttle, dass ich Kiddusch mit Wein mache oder, dass ich mich weigere, am Schabbat zu arbeiten. Sowohl meine Großmutter als auch meine Eltern begegneten meiner Entscheidung, dem Judentum angehören zu wollen, mit vollstem Verständnis. Zu meinem Erstaunen und Stolz gaben meine Eltern bei der letzten Volkszählung in Polen die doppelte Staatsangehörigkeit an – polnisch und jüdisch.
 

Katka Reszke: Return of the Jew: Identity Narratives of the Third Post-Holocaust Generation of Jews in Poland, Boston 2019, S. 18–20
Text
Das zwanzigste Jahrhundert barg ein Versprechen für die osteuropäischen Jüdinnen:Juden. Es enttäuschte aber auch alle Hoffnungen und brachte der jüdischen Welt Verwüstung, Tod und Zerstörung. Es brachte jüdischen Frauen die Möglichkeit, ihre beruflichen Karrieren zu verfolgen oder in der Öffentlichkeit aufzutreten. Es brachte jedoch auch die Erfahrung von Verlust, Trauma und beispielloser Gewalt mit sich, welche die osteuropäischen Jüdinnen:Juden über Generationen hinweg zeichnen sollte. Doch auch nach dem Holocaust ging das jüdische Leben in den "bloodlands" des östlichen Europa weiter. Dem fortdauernden Antisemitismus zum Trotz fanden die Jüdinnen:Juden neue Wege, um gemeinschaftliche Bindungen zu erhalten, ihre Traditionen weiterzuführen und ihre jüdische Identität in diesem unruhigen Teil der Welt zu leben.

Siehe auch