Von ihrer Deportation durch die Deutschen im Zweiten Weltkrieg und ihrer Ankunft in Breslau nach Kriegsende 1945 berichtet Joanna Konopińska in ihrem bewegenden Tagebuch „Tamten wrocławski rok“.


Im Morgengrauen wurden die Waggons geöffnet, und die Gendarmen verschwanden. Jemand stieg als erster auf den Bahnsteig hinab, und andere folgten. Wir standen auf einem dicht mit Schnee bedeckten Bahnsteig, ohne zu wissen, was wir weiter machen sollen. Mama ging zum Stationsgebäude hin und erfuhr dort von den Bahnarbeitern, dass wir in Opoczno sind.1

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Biografisches Kurzportrait
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Joanna Konopińska wurde 1925 in
Poznań
deu. Posen

Poznań ist eine Großstadt im Westen von Polen und mit über 530.000 Einwohnern die fünftgrößte Stadt des Landes. Die Messe- und Universitätsstadt liegt in der historischen Landschaft Großpolen und ist zugleich Hauptstadt der heutigen gleichnamigen Woiwodschaft. Bereits in der Frühen Neuzeit ein bedeutendes Handelszentrum fiel die Stadt 1793 erstmals an das Königreich Preußen als Teil der neu gebildeten Provinz Südpreußen. Nach zwischenzeitlicher Zugehörigkeit zum Herzogtum Warschau (1807-1815) kam Posen nach dem Wiener Kongress erneut zu Preußen als Hauptstadt des neuen Großherzogtums Posen. Ab 1919 gehörte Poznań für zwei Jahrzehnte zur Zweiten Polnischen Republik, bevor die Stadt ab 1939 von der Wehrmacht besetzt und Teil des Reichsgaus Wartheland (dem sog. Warthegau) wurde. Die fast sechsjährige Besatzungszeit war geprägt durch die brutale Verfolgung der polnischen und jüdischen Bevölkerung einerseits, die zu Zehntausenden ermordet oder in Konzentrations- und Arbeitslagern interniert wurde, und der gezielten Neuansiedlung deutschsprachiger Bevölkerungsteile in Stadt und Umland andererseits. Anfang 1945 wurde Posen von der Roten Armee erobert und Teil der Volksrepublik Polen. Eines der wichtigsten Ereignisse der Nachkriegszeit war der gewaltsam niedergeschlagene Arbeiteraufstand im Juni 1956.

in ein wohlhabende Familie eines Hochschullehrers und Grundbesitzers geboren. Nach dem deutschen Überfall auf Polen im September 1939 wurde ihre Familie schon am 26. Oktober 1939 im Rahmen des nationalsozialistischen Generalsiedlungsplans von ihrem Gut Panienka bei Jarocin (
Großpolen
lat. Polonia maior, eng. Greater Poland, pol. Wielkopolska

Großpolen ist die Bezeichnung für eine historische Landschaft im Zentrum und Südwesten des heutigen polnischen Staates, die zugleich als historisches Kernland Polens gilt. Im Südwesten grenzt Großpolen an die historische Landschaft Schlesien, im Westen an die historischen Landesteile der Mark Brandenburg, im Norden und Nordosten an Pommerellen und Kujawien. Wichtige Städte sind Poznań (dt. Posen) und Gniezno (dt. Gnesen).
Nachdem Großpolen 1815 als sog. "Großherzogtum Posen" und spätere "Provinz Posen" an Preußen kam, wurde auch die Bezeichnung der Region als "Posener Land" geläufig.

Abgeleitet von der historischen Landschaft sind Name und Ausdehnung der heutigen Woiwodschaft Großpolen, die von ungefähr 3,5 Millionen Menschen bewohnt wird und knapp 33.000 Quadratkilometer groß ist.

) vertrieben. Nach der anfänglichen Internierung in Cerekwica nordwestlich von Posen wurden sie nach Opoczno im Generalgouvernement abtransportiert. Kurz darauf ließ sich die Familie Konopiński in Słowik (heute Stadtteil von 
Kielce

Kielce ist eine Großstadt im Südosten Polens und zugleich Hauptstadt der Woiwodschaft Heiligkreuz (województwo świętokrzyskie). Die Stadt hat mehr als 190.000 Einwohner, ist eine wichtige Industrie- und Handelsstadt und Sitz mehrerer Hochschulen.

) nieder. Während des Krieges studierte Joanna Konopińska Geschichte an der geheimen Universität der westlichen Gebiete (Uniwersytet Ziem Zachodnich) in Kielce, an deren Organisation sich ihr Vater beteiligte. Nach dem Krieg zog die Familie nach 
Wrocław
deu. Breslau, lat. Wratislavia, lat. Vratislavia, ces. Vratislav

Wrocław (dt. Breslau) ist eine der größten Städte in Polen (Bevölkerungszahl 2022: 674.079). Sie liegt in der Woiwodschaft Niederschlesien im Südwesten des Landes.
Zunächst unter böhmischer, piastischer und zeitweise ungarischer Herrschaft übernahmen 1526 die Habsburger die schlesischen Erblande und damit auch Breslau. Einen weiteren Wendepunkt in der Geschichte der Stadt stellte die Besetzung Breslaus durch die preußischen Truppen 1741 und die anschließende Einverleibung eines Großteil Schlesiens in das Königreich Preußen dar.
Die rapide Bevölkerungszunahme und Industrialisierung führte zur sprunghaften Urbanisierung der Vorstädte und ihrer Eingemeindung, was mit der Schleifung der Stadtmauer Anfang des 19. Jahrhunderts einherging. Bereits 1840 wuchs Breslau mit 100.000 Einwohnern zur Großstadt heran. Am Ende des 19. Jahrhunderts veränderte sich das häufig noch mittelalterlich geprägte Stadtbild hin zur Großstadt wilhelminischer Prägung. Höhepunkt der Stadtentwicklung noch vor dem Ersten Weltkrieg war die Anlage des Ausstellungsparks als neuer Mittelpunkt der gewerblichen Zukunft Breslaus mit der Jahrhunderthalle von 1913, die seit 2006 zum UNESCO-Weltkulturerbe gehört.
In den 1920er und 30er Jahren erfolgte die Eingemeindung von 36 Ortschaften und der Bau von Wohnsiedlungen am Stadtrand. Um der großen Wohnungsnot nach dem Ersten Weltkrieg zu begegnen, wurden auch Wohngenossenschaften mit Siedlungsbau beauftragt.
Noch 1944 zur Festung erklärt, wurde Breslau während der folgenden Kampfhandlungen in der ersten Hälfte 1945 nahezu vollständig zerstört. Der Wiederaufbau der nun Polnisch gewordenen Stadt dauerte bis in die 1960er Jahre.
Von der etwa 20.000 Personen zählender jüdischen Bevölkerung fanden sich nach dem Zweiten Weltkrieg nur 160 Personen in der Stadt wieder. 1945–1947 wurde die nach dem Kriegsende verbliebene bzw. zurückgekehrte - deutsche - Bevölkerung der Stadt zur Auswanderung größtenteils gezwungen, an ihre Stelle wurden Menschen aus dem Gebiet des polnischen Vorkriegsstaats angesiedelt, darunter aus den an die Sowjetunion verlorenen Gebiete.
Nach dem politischen Umbruch von 1989 erhob sich die Stadt zu neuer, beeindruckender Blüte. Der Transformationsprozess und seine raumwirksamen Folgen sorgten für einen rasanten Aufschwung Breslaus, unterstützt durch den Beitritt Polens zur Europäischen Union im Jahr 2004. Heute ist Breslau eine der am besten prosperierenden Städte Polens.

, da der Vater einen Ruf an die dortige Universität erhalten hatte. Joanna beendete ihr Studium und arbeitete kurzzeitig an der Historischen Fakultät. 1947 zog sie sich aus dem regulären Arbeitsleben zurück, gelegentlich schrieb sie Artikel für verschiedene Zeitschriften, darüber hinaus publizierte sie neben ihren Erinnerungen 1977 auch ein Buch. Sie verstarb 1996 in Breslau.
Historischer Hintergrund
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Die Edition der Tagebücher von Joanna Konopińska geben einen Einblick in zwei Zeitphasen der Zwangsmigration in der Mitte des 20. Jahrhunderts: Zum einen vertrieben die deutschen Eroberer bei Kriegsbeginn 1939 Polen aus den vom Reich annektierten Gebieten, um dort Platz für deutsche Siedler zu schaffen. Die ‚Wojewodschaft’ ‚Wojewodschaft’ Wojewodschaft oder Woiwodschaft bezeichnet einen polnischen Verwaltungsbezirk. Großpolen sollte zu einem mustergültigen ‚deutschen’ Wartheland werden. In der Region Großpolen/ Wartheland berühren sich also die Migrationsgeschichte von Joanna Konopińska sowie jene der Familie Campenhausen, die aus dem Baltikum ins Wartheland zur Stärkung des ‚Deutschtums’ umgesiedelt wurde. Die Familie Campenhausen ergriff ihrerseits bei Kriegsende die Flucht nach Westen, da sie die Gewalt der Sowjetischen Armee fürchtete.
Zum anderen schildert Joanna Konopińska im Tagebuch die Ankunft in Breslau/Wrocław 1945. Die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs hatten entschieden, dass die deutsche Bevölkerung aus den Gebieten östlich von Oder und Neiße ausgesiedelt werden sollte, um Platz für polnische Neusiedler zu schaffen. Die Ankunft von Joanna Konopińska 1945 in Schlesien ereignete sich daher etwa zur gleichen Zeit, wie die Vertreibung und Aussiedlung der beiden Deutschen Eva S. und Hilda J.-S. aus Schlesien.
Dass eine Edition des Tagebuchs von Joanna Konopińska in Polen 1987 erschien, also noch zu sozialistischer Zeit, gibt einen Hinweis darauf, mit welcher Offenheit diese alltagsgeschichtliche Perspektive auf Zwangsmigrationen auch vor dem politischen Umbruch von 1989/90 in Polen behandelt wurde. Die Buch-Edition wurde dazu u.a. mit Anmerkungen versehen, um den Leser*innen den Zusammenhang zwischen dem deutschen Breslau der Vergangenheit und dem polnischen Wrocław der Nachkriegszeit zu verdeutlichen.
Vertreibung aus Panienka 1939
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„Eines Tages tauchten Gendarmen auf, die uns unter Gebrüll auf offene Lastwagen schubsten, die bis in die Morgenstunden vor dem Lagertor standen. Schneeregen fiel, der Tag war feucht und grau. Zusammengepfercht standen wir eng beieinander und so wurden wir zum Bahnhof in Jarotschin gefahren und in den Zug geladen. Wir fuhren am späten Abend los. Wir wussten nicht, wohin wir gebracht werden, seit dem Abend am Vortag hatten wir nichts gegessen, wir besaßen keinen Proviant für den Weg.
Wir wurden über Ostrów Wielkopolski, Tschenstochau, Kielce, Skarżysko-Kamienna fahren. Der Zug hielt ständig an und stand mehrere Stunden im Feld. Er war nicht beheizt. Die Nacht war vorbei und auch der ewig lange Tag, und mitten in der folgenden Nacht blieb der Zug an einer namenlosen Station stehen.
Im Morgengrauen wurden die Waggons geöffnet, und die Gendarmen verschwanden. Jemand stieg als erster auf den Bahnsteig hinab, und andere folgten. Wir standen auf einem dicht mit Schnee bedeckten Bahnsteig, ohne zu wissen, was wir weiter machen sollen. Mama ging zum Stationsgebäude hin und erfuhr dort von den Bahnarbeitern, dass wir in Opoczno sind.
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Während des deutschen Überfalls auf Polen im September 1939 waren Joanna Konopińska und viele andere Polen in den westlichen Gebieten Polens interniert worden. Im Oktober 1939 setzten die deutschen Besatzer diese Internierung abrupt aus, und die Internierten wurden sich selbst in der Fremde überlassen:
Kriegsende 1945: Rückkehr in den (verwüsteten) alten Wohnort Panienka
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Da die Sowjetischen Armee Anfang 1945 rasch vorrückte, unternahm die Familie den Versuch, von Słowik (bei Kielce) nach Hause zurückzukehren. Neben der beschwerlichen Reise machten ihnen die Umstände am alten Wohnort zu schaffen. Viele Häuser waren verwüstet, die Wiederinstandsetzung der Landwirtschaft war mit zahlreichen existentiellen Problemen verbunden:
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„Schon im Februar, direkt nachdem die Front Kielce passiert hatte, gingen Mama mit Maryla und dem Cousin Janek Bąkowski nach Panienka. Da es damals noch keinen Zugverkehr gab, mussten sie den meisten Weg zu Fuß bestreiten. […] erst Mitte März machte ich mich auf den Weg nach Panienka mit meiner Freundin Ewa Chodźko, die sich angeboten hatte, mich auf der Reise zu begleiten, die mit Unterbrechungen vier Tage dauerte. […] Das Haus in Panienka war komplett leergeräumt. Lediglich die Möbel aus dem Schlafzimmer und ein Teil der Küchengeräte ist übriggeblieben – den Rest der Hauseinrichtung schenkte Fischer dem Landrat in Jarotschin. Vater trauert am meisten um die Bilder, die ebenfalls verschwanden. Angeblich, wobei die Nachricht noch nicht überprüft worden ist, wurde ein Teil von ihnen von den polnischen Behörden im Landratsamt sichergestellt und ins Museum in Posen gebracht. […] In den Wirtschaftsgebäuden herrschte gähnende Leere. Zum Zeitpunkt unserer Ankunft in Panienka standen im Stall zwar ein paar Dutzend Kühe, aber vor ein paar Tagen haben sowjetische Soldaten den Viehbestand nach Mieszków getrieben. Geblieben sind nur zwei Ochsen und eine hinkende Kuh.3
Mit (fast) leeren Händen die Landwirtschaft wieder in Gang bringen
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Schwierigkeiten bereitete indes nicht nur der Mangel an Waren, sondern auch an Arbeitskräften:
„Da es kein Saatgut gibt, beabsichtigt Mama den Boden, soweit es geht, eben mit Kartoffeln zu bestellen. Das wird keine leichte Aufgabe, zumal es an Pferden, Geräten, und vor allem an Arbeitskräften mangelt. Nach Panienka kehren auch Besitzer der großen Höfe zurück, die, wie wir, von den Deutschen aus ihrem Zuhause vertrieben worden waren. […] Sie kehren auf ihre verwüsteten Güter zurück und fangen unter den schwierigsten Umständen, die es nur geben kann, mit der Arbeit an. In Panienka blieben während des Krieges nur Landlose oder Kleingrundbesitzer über, welche die ganze Zeit über als Landarbeiter auf den Gütern von Fischer von Mollard arbeiteten. Die Übrigen mussten ihre Güter verlassen, um Platz für die aus 
Litauen
eng. Lithuania, lit. Lietuva

Litauen ist ein baltischer Staat im Nordosten Europas und wird von ungefähr 2,8 Millionen Menschen bewohnt. Vilnius ist die Hauptstadt und bevölkerungsreichste Stadt Litauens. Das Land grenzt an die Ostsee, Polen, Weißrussland, Russland und Lettland. Erst im Jahr 1918 erlangte Litauen Unabhängigkeit, die das Land nach mehreren Jahrzehnten der Eingliederung in die Sowjetunion 1990 wiedererlangte.

 und 
Lettland
eng. Latvian Republic, eng. Latvia, lav. Latvija

Lettland ist ein baltischer Staat im Nordosten Europas und wird von ungefähr 1,9 Millionen Einwohner:innen bewohnt. Hauptstadt des Landes ist Riga. Der Staat grenzt im Westen an die Ostsee und an die Staaten Litauen, Estland, Russland und Weißrussland. Lettland ist seit dem 01.05.2004 Mitglied der EU und erlangte erst im 19. Jahrhundert Unabhängigkeit.

 geholten Baltendeutschen [im Original: „Baltendeutschów
] zu machen […]4
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Polnische Gutsbesitzer, die bei Kriegsende auf ihre vormaligen Güter zurückkehrten, mussten damit rechnen, dass die neue kommunistische Regierung Polens diese Güter beschlagnahmte und sie ihre Häuser verlassen mussten:
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Seit einigen Tagen wohnt bei uns in Panienka Onkel Walenty Galiński, Besitzer des benachbarten Guts Bielejewo. Nach dem Krieg kehrte er erfreut auf sein Gut zurück, aber nach einer Woche kam die Volkspolizei, und er wurde angewiesen, Bielejewo zu verlassen. Morgen werden unsere Möbel gebracht, die uns von Fischer [von Mollard] dem Landrat in Jarotschin geschenkt wurden. Endlich werden wir das Haus einrichten können, und werden nicht mehr alle in einem Zimmer hausen und auf dem nackten Boden auf Strohmatratzen liegen müssen.5

Von Panienka nach Breslau. Die Suche nach einem Neuanfang in Polens neuen Westgebieten
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Angesichts des Mangels an Verkehrsmitteln und des Zustands der Verkehrswege stellten selbst kürzere Reisen eine Herausforderung dar:
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„Das ist zurzeit die einzige Eisenbahnlinie, die Posen mit Breslau verbindet. Sie verläuft über Jarotschin, Krotoszyn, Milicz nach Oels, hier steigt man um und fährt weiter mit einem anderen Zug nach Hundsfeld. Nach Oels kamen wir gegen Abend. Der Bahnhof ist voll von sowjetischen und polnischen Soldaten, Repatrianten aus Zentralpolen, die nach einem neuen Niederlassungsort suchen, Menschen, die von der Zwangsarbeit im Reich und aus den Konzentrationslagern zurückkehren, oft sieht man die Zebrakleidung [die gestreifte Häftlingskleidung, Anm.d.Red.]. Der Bahnhof ist nicht beleuchtet, es ist schmutzig hier, es gibt kein Trinkwasser, überall irgendwelche Lumpen und Dreck, Papier, die Menschen drängen aufeinander – ein furchtbares Durcheinander. Einige Leute warnen uns, dass wir auf das Gepäck aufpassen sollen, denn es wird gestohlen hier. Die Nacht verbringen wir sitzend auf irgendwelchen Holzkästen. Man weiß nicht, wann der Zug nach Breslau fahren wird. Ab und zu verlassen die Leute ihre Plätze, laufen zum Bahnsteig, weil jemand angeblich gesagt hätte, dass der Zug gleich käme. Es waren falsche Alarme. Bei Tagesanbruch wurde endlich ein Zug bereitgestellt, der aus einigen Personenwaggons ohne Fenster bestand, in einigen Abteilen fehlte der Boden. An die Personenwaggons wurden ein paar Kohlewagen angehängt. Die Menschenmenge warf sich förmlich auf den Zug, als dieser noch in Bewegung war. In der Menge fiel eine ältere Frau – oder sie wurde hineingestoßen – unter die Räder. Ihre Tochter schrie entsetzlich. Es kam Polizei, so eine Sonderabteilung der Bahnpolizei. Sie versuchten für Ordnung zu sorgen und zogen Menschen von den Waggondächern und den Puffern zurück, Hie und da brachen Schlägereien aus. Mit Vater hatten wir kaum Chancen, einen Platz im Waggon zu erlangen. Aber auf die im Krieg erprobte Weise fand Vater einen Bahnarbeiter, der uns für eine Flasche Wodka in einem Wagen ohne Boden platzierte. Wenn wir auf der Bank saßen, hingen die Beine in der Luft und unter den Füssen konnte man die Schienen und Bahnschwellen sehen. Auf den Bänken ist es so eng geworden, dass sich die Leute auf den Schoß setzten.
Kurz vor Breslau/ Wrocław
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Die Ankunft in den sogenannten Wiedergewonnenen Gebieten im Sommer 1945 war nicht weniger beschwerlicher als in den anderen Teilen Polens. Für Unsicherheit sorgte zudem die Frage, ob diese westlichen Gebiete (Schlesien,
Hinterpommern
pol. Pomorze Tylne, deu. Ostpommern, eng. Eastern Pomerania, eng. Further Pomerania, eng. Farther Pomerania
und der südliche Teil
Ostpreußen
eng. East Prussia, pol. Prusy Wschodnie, lit. Rytų Prūsija, rus. Восто́чная Пру́ссия, rus. Vostóchnaia Prússiia

Ostpreußen ist der Name der ehemaligen, bis 1945 bestehenden östlichsten preußischen Provinz, deren Ausdehnung (ungeachtet historisch leicht wechselnder Grenzverläufe) ungefähr der historischen Landschaft Preußen entspricht. Die Bezeichnung kam erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Gebrauch, als neben dem 1701 zum Königreich erhobenen Herzogtum Preußen mit seiner Hauptstadt Königsberg weitere, zuvor polnische Gebiete im Westen (beispielsweise das sog. Preußen Königlichen Anteils mit dem Ermland und Pommerellen) zu Brandenburg-Preußen kamen und die neue Provinz Westpreußen bildeten.
Heutzutage gehört das Gebiet der ehemaligen preußischen Provinz überwiegend zu Russland (Oblast Kaliningrad) und Polen (Woiwodschaft Ermland-Masuren). Das ehemalige sog. Memelland (auch Memelgebiet, lit. Klaipėdos kraštas) kam erstmals 1920 und erneut ab 1945 zu Litauen.

) dauerhaft zu Polen gehören würden. Hausrat und andere Dinge, die die Deutschen zuvor bei Flucht oder Vertreibung zurücklassen mussten, erschienen vielen Polen nun als herrenlose Gegenstände. Da vielerorts Mangel herrschte, waren die westlichen Gebiete ein begehrtes Ziel für all jene, die dem Mangel Abhilfe schaffen wollen. Joanna Konopińska schildert ihre eigene Ankunft in Breslau-Hundsfeld und gleichzeitig die Abfahrt jener, die sich mit allerlei „Szaber“ [Beute] versorgt hatten. Zur Orientierung im Stadtraum gaben die Herausgeber der Tagebuchedition zu den deutschen Straßennamen in Breslau, wie sie Joanna Konopińska im Tagebuch benutzt hatte, die polnischen Straßennamen bei.
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Etwa einen Kilometer nach der Station [Hundsfeld] stoppte der Zug. Die Weiterfahrt stellte sich als unmöglich heraus, da die Brücke über den Fluss abgerissen ist. Nur schwer konnten wir uns aus dem Waggon nach draußen schaffen. In Wasserpfützen auf einer großen, sumpfigen Wiese standen Wagen; Hundertschaften von verschiedenartigen Wagen: Kinder-, Garten-, Holz-, Metallwagen mit Rädern oder ohne, und auch Fahrräder. Wenn die einen Passagiere ausstiegen, drängten andere mit ihrer erplünderten Beute hinein: Teppichen, Bettzeug und was sie auf die Wagen packen konnten.[…] Die meisten Reisenden gingen geradeaus auf der Hundsfelderstraße [heute  Bolesława Krzywoustego]. Wir bogen links ab in die Friedewalder Strasse [heute Aleksandra Brücknera] und Kopernikusstrasse [heute Jana Kochanowskiego], weil wir auf diesen Straßen am schnellsten nach Bischofswalde [obecnie Biskupin] über die östlichen Teile der Stadt gelangen konnten [...].6

Durch eine zerstörte Stadt
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Breslau befand sich in den ersten Monaten nach dem Krieg in einem desolaten Zustand. Der Großteil der städtischen Infrastruktur war zerstört. Auf den Straßen lagen noch Gegenstände, die auf ein rasches Verschwinden ihrer Besitzer:innen deuteten:
„In der Parkstraße [ul. Parkowa] stießen wir auf drei umgekippte Militärwagen. Aus einem von ihnen wollte ich eine grüne Decke von der Hinterbank mitnehmen, doch nach der Inaugenscheinnahme stellte sich heraus, dass sie mit Blut befleckt ist. Ich habe die Decke weggeworfen. Die Parkstraße ist nur teilweise zerstört, aber in allen Fenstern fehlen die Scheiben. […] Unter einem verblühten Kastanienbaum bemerkte ich vier Gräber mit provisorischen Kreuzen. Endlich kamen wir an die Horst-Wessel-Straße [ul. Zygmunta Wróblewskiego]. Einige Pfeiler, die das Dach vor einer riesigen Veranstaltungshalle stützten, lagen auf dem Boden. Auf der anderen Straßenseite befand sich der zoologische Garten. Jenseits der Absperrung konnte man zwei spazierende Zebras sehen. […] Irgendwelche Tiere, die man von der Straße nicht sehen konnte, brüllten, sei es vor Hunger oder vor Durst. Es machte in dieser verlassenen Landschaft einen unheimlichen Eindruck.
Überall Spuren des Krieges
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Die Spuren der noch frischen deutschen Vergangenheit waren inmitten der Zerstörung überall sichtbar:
Die Straßenüberführung, die das Ausstellunggelände mit der Veranstaltungshalle verband, war zur Hälfte abgerissen. Riesige, zerfranste Platten und Zementbrocken hingen dran. Ich hatte den Eindruck, dass sie gleich zerfällt. Die größten Mühen auf dem Weg bereiteten uns zahlreiche Bombentrichter. Einige konnten wir umgehen, über andere mussten wir den Wagen schleppen, weil sie die ganze Straßenbreite einnahmen. […] Vor dem zerstörten runden Kioskhäuschen lag auf den Schienen eine gelbe Straßenbahn mit zwei Anhängern, drum herum viele Glassplitter, verstreute Lumpen, Müll, Papier, dazwischen eine geöffnete Damenhandtasche und daneben Fotos von Kindern und einem Offizier in deutscher Uniform.7
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Tod und Schrecken im Alltag waren selbst für die kriegserfahrene polnische Bevölkerung nur schwer zu ertragen:
„Auf einem kleinen Friedhof stand ein mit einem abgemagerten Pferd bespannter Wagen, von dem ein Mann, zweifelsohne ein Deutscher, Leichen in ein tiefes Loch heruntertrat. Wir nahmen einen üblen Gestank wahr. Mir ist von all dem schlecht geworden, in diesem Moment wollte ich sofort nach Panienka zurückkehren, ich war müde und wortwörtlich erschrocken […]. Weiter gingen wir entlang der Wilhelmshavener Straße. Einmal sah ich wie aus einem kleinen zerstörten Haus ein kleiner Rattenschwarm auf die Straße hinauskam: vorn zwei große, fettgefressene, mit glatten Schwänzen, und ein paar junge Ratten hinterher.8
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Die neuen Bewohner:innen der Stadt organisierten ihr Leben in den besetzten Häusern der früheren Bevölkerung, die meistens nicht mehr da war:
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„Vater brachte Wasser aus dem Brunnen vom Garten des benachbarten Hauses. Nachdem ich mich gewaschen und mehr oder weniger frisch gemacht hatte, sammelte ich mehr Mut und begann das Feuer unter dem Herd in der Küche zu machen. Gas war leider nicht angeschlossen, und es gab auch keinen Strom. Im Haus herrschte Dunkelheit, weil Vater während des ersten Aufenthalts die Fenster mit Brettern zugeschlagen und mit schwarzem Papier abgeklebt hatte. Erst nachdem die Fenster geöffnet waren, kam die ganze Breite der Vernachlässigung und das Durcheinander ans Tageslicht. […] Wie ich bereits schrieb, Vater besetzte das Haus noch im Mai, er reparierte die Eingangstür, sicherte die Fenster mit Brettern, aber wohnte hier nicht. Er übernachtete im Klinikum an der Kochstraße, weil er nicht allein wohnen wollte, und vom Klinikum war es näher zum Roßmarkt, wo sich in der alten Stadtbücherei die Kultur- und Wissenschaftsbehörden eingerichtet haben, welche für die Organisation der künftigen Universität zuständig sind.9
Lebensmittel organisieren
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Die Kriegsschäden wirkten sich über eine längere Zeit auch auf die Versorgungslage aus. Noch im November 1945 mussten die neuen Bewohner:innen in vielen Bereichen improvisieren:
„Vater bekam schon Lebensmittelmarken, aber nur für eine Person, denn die Marken werden von den Bezirksämtern nur an arbeitende Personen und ihre Familien ausgegeben. Da ich mich bereits auf die Studentenliste eingetragen habe, glaube ich, dass auch ich solche Marken erhalten sollte. Angeblich kann man dafür Fleisch, Wurstwaren, Zucker, Graupen und Mehl erhalten. Obwohl die Zuteilung gering ist, erleichtern sie schon das Leben. In einem Haus an der Nachbarstraße fand ich im Keller zwei kleine Mehlsäcke und ein paar Pfund Bohnen. Mit Hilfe von Frau Weiß und Ewa brachten wir sie in unseren Keller. Im Garten an einem anderen Haus entdeckte ich einige Beete mit Kohl und einigen Möhren. Man muss sich mit der Ernte beeilen, weil sie erfrieren können oder jemand anderer holt sie uns vor der Nase weg.10
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Im weiteren Text der Tagebuch-Edition schildert Joanna Konopińska weitere Einzelheiten des mühsamen Neubeginns in Breslau/ Wrocław. Sie schreibt über die Entstehung einer neuen polnischen Stadtgesellschaft ebenso wie über verschiedene Situationen, in denen sie mit den noch in Breslau verblieben Deutschen zusammentrafen, die auf die Aussiedlung nach Westen warteten. Die aufmerksamen Beobachtungen von Joanna Konopińska über diese merkwürdige Parallelität von schon ‚neuem' polnischen Wrocław und noch ‚altem' deutschen Breslau haben auch in der Geschichtswissenschaft an verschiedenen Stellen Interesse hervorgerufen, so unter anderem in der Arbeit von Gregor Thum „Breslau 1945. Die fremde Stadt“.11
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Bearbeitung:
 
Quellenauswahl und Analyse: Dariusz Gierczak
Deutsche Übersetzung: Dariusz Gierczak (Polnisch-Deutsch)
Kartenmontage: Laura Gockert
Redaktion: Christian Lotz
Text
Dieser Beitrag stammt aus der Serie: „Zwangsmigration: Menschen und ihre Fluchtwege

Siehe auch