Wie sich jemand in einem fremden Land zurechtfindet, lässt sich auf verschiedene Weise erkunden. Bei den Reisen von Franz Xaver Bronner aus der Schweiz nach Kazan’ 1810 und zurück im Jahre 1817 wird ein geographischer Ansatz angewendet, um eine faktenbasierte Grundlage zu gewährleisten.
Hinführung
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Anfang des Jahres 1810 erhielt Franz Xaver Bronner (1758–1850) einen Ruf als Professor an die neugegründete Universität
Kazánʹ
rus. Kazan, rus. Kasan, rus. Каза́нь

Kasan ist die sechstgrößte Stadt Russlands (ca. 1,2 Mio. Einwohner:innen) und zugleich Hauptstadt der russischen Republik Tatarstan.

an der Wolga und er reiste während des Sommers und Herbstes von Aarau in der Schweiz  über
Sankt-Peterburg
rus. Leningrad, deu. Sankt Petersburg, eng. Saint Petersburg, rus. Ленингра́д, rus. Петрогра́д, rus. Petrograd

Sankt Petersburg ist eine Metropole im Nordosten Russlands. In der Stadt wohnen 5,3 Millionen Menschen, was sie nach Moskau zur zweitgrößten des Landes macht. Sie liegt an der Mündung der Newa (Neva) in die Ostsee im Föderationskreis Nordwestrussland. Sankt Petersburg wurde 1703 von Peter dem Großen gegründet und war von 1712 bis 1918 die Hauptstadt Russlands. Von 1914–1924 trug die Stadt den Namen Petrograd, von 1924–1991 den Namen Leningrad.

an seinen Dienstort. 1817 kehrte er enttäuscht zurück. Diesmal nahm er den direkter erscheinenden Weg über Moskau, Galizien, Wien, München und seinen Heimatort Höchstädt an der Donau. Seine nur teilweise ausgearbeiteten Reiseaufzeichnungen liegen im Staatsarchiv Aargau und werden im Rahmen des DFG-Projekts „Digitale Editionen Historischer Reiseberichte“ online ediert. Damit verbunden ist eine wissenschaftliche Auswertung, die sich auf eine Ontologie, d.h. ein systematisches Kategoriengerüst, sowie auf die kartographische Darstellung von Wegen und Beziehungen stützt.

Reiseweg mit unterschiedlichen Verkehrsmitteln

Orientierung im Raum
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In einem interessanten Aufsatz1  untersucht der finnische Historiker Panu Savolainen auf der Grundlage des Tagebuchs des späteren protestantischen Pfarrers Pehr Stenberg, wie sich dieser während seines Studiums in der Universitätsstadt
Turku
swe. Åbo

Turku (schwedisch Åbo) ist eine Stadt an der südwestlichen Küste Finnlands und zugleich die älteste Stadt des Landes. Heute ist Turku eine Großstadt mit fast 200.000 Einwohnern.

orientierte. Stenberg erwähnt in dem sehr überschaubaren Ort vor allem die Namen von Hauseigentümern, daneben Straßennamen und wichtige Landmarken wie den Marktplatz, den Fluss Eura und die darüber führende Brücke. Bronner seinerseits schildert zwar in Frankfurt am Main, wie er sich fremde Städte entlang den großen Straßenzügen erwandert. Aber leider spiegelt sich das nicht in seinem Reisebericht. In St. Petersburg, dessen Großräumigkeit ihn sichtbar überfordert, erwähnt er zwar den Winterpalast und die Admiralität, wobei er jedoch schon das der Admiralität gegenüber liegende „Hôtel d’Angleterre“ nicht finden konnte. Aber man vermisst beispielsweise die Neva mit der markanten Pontonbrücke zur Vasil’evskij-Insel (wo Bronner mehrere Leute aufsuchte); selbst der berühmte Nevskij-Prospekt kommt nur in der Reinschrift, d.h. als Ergebnis von Reflexion vor. (Auf der Karte lassen sich die lokalisierten Orte über das Menü „Layers and Legend“ unter „Reisepunkte alle“ einblenden) Bei der Suche nach Personen – die im Übrigen sehr zahlreich Erwähnung finden – half ihm das im Vorjahr veröffentliche erste Stadtadressbuch.2  In
Kyjiw
deu. Kiew, eng. Kiev, eng. Kyiv, pol. Kijów

Kiew liegt am Fluss Dnepr und ist seit 1991 Hauptstadt der Ukraine. Nach der ältesten russischen Chronik, der Nestorchronik, wurde Kiew erstmals 862 erwähnt. Es war Hauptsiedlungsort der Kiewer Rus‘, bis es 1362 an das Großfürstentum Litauen fiel, das 1569 Teil der polnisch-litauischen Adelsrepublik wurde. 1667 kam Kiew nach dem Aufstand unter Kosakenführer Bogdan Chmel'nyc'kyj und dem darauf folgenden polnisch-russischen Krieg zu Russland. 1917 wurde Kiew Hauptstadt der Ukrainischen Volksrepublik, 1918 der Ukrainischen Nationalrepublik und 1934 der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik.
Bezeichnet wurde Kiew auch als „Mutter aller russischen Städte“, „Jerusalem des Ostens“, „Hauptstadt der goldenen Kuppeln“ und „Herz der Ukraine“.
Im russisch-ukrainischen Krieg ist Kiew stark umkämpft.

Aufgrund des Krieges in der Ukraine ist es möglich, dass diese Informationen nicht mehr dem aktuellen Stand entsprechen.

und Wien nahm Bronner sich „Mietlakaien“ als Führer. Immer waren natürlich Kutscher und die Quartiergeber bei der Suche behilflich. Bei der Lokalisierung von Gasthöfen und Wohnungen mussten wir deshalb vornehmlich genau jene Stadtadressbücher zu Hilfe nehmen, die es damals nur für ganz wenige Orte gab.
Ganz anders sieht es im ländlichen Raum aus: Bronner übermittelt uns ausführliche Landschaftsbeschreibungen, die es uns erlaubten, überraschend viele Dörfer, Poststationen und einzelne Landschaftspunkte genau zu lokalisieren, indem wir alte und moderne Karten sowie private Bilder, die in Google oder Yandex veröffentlicht sind, zu Hilfe nahmen.
Bronner erwähnt in seinem gesamten Bericht die beachtliche Zahl von 1439 Orten und geographischen Punkten. Von diesen konnten wir bisher 1113 (77 %) sicher lokalisieren. Die fehlenden liegen bezeichnenderweise überwiegend in Städten.
Vergleiche
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Bronner stammte, wie erwähnt, aus Höchstädt an der Donau. Früh trat er in das Benediktinerkloster Hl. Kreuz in Donauwörth ein. Aber sein eigentliches Leben begann erst nach seiner zweiten Flucht in die Schweiz Ende des Jahres 1793. Als Anhänger der Aufklärung und dank seiner gewandten Feder erlangte er während der Zeit der von Frankreich errichteten Helvetischen Republik (1797–1803) einen wichtigen Posten in der Administration, was ihm nach dem Sieg der Reaktion aber auch viele Anfeindungen einbrachte. Die folgenden Jahre verbrachte er mit schlechtem und vor allem unsicherem Gehalt als Lehrer am neuerrichteten Kantonsgymnasium in Aarau. Die Schweiz war ihm zu dieser Zeit schon zur Wahlheimat geworden, wozu nach dem Ausweis seiner dreibändigen Lebensbeschreibung von 1795–17973  die literarische Schweiz-Begeisterung jener Zeit, die Freundschaft mit dem Züricher Dichter und Patrioten Salomon Gessner und seiner Familie sowie die Bekanntschaft mit zahlreichen Mitgliedern den liberalen Bildungselite Zürichs beigetragen hatte. Die zahlreichen Vergleiche von Reiseeindrücken mit der Schweiz, die auf der Karte mit Linien angezeigt werden (wenn man „Verbindungen“ aktiviert) und die stets zugunsten der Schweiz ausfallen, belegen dies eindrücklich.
Auffallend ist, dass Bronners ursprüngliche Heimat an der oberen Donau und in „Schwaben“ in Vergleichen kaum erscheint. Verständlicherweise nimmt Bronner immer wieder auf schon durchreiste Orte Bezug, wobei sich die rückwärtsgewandten Vergleiche (allerdings überwiegend mit der Schweiz) nach dem Überschreiten der russischen Grenze häufen. Die „Schweiz“ steht dabei – erkennbar in Übereinstimmung mit den Klischees der Zeit – für fruchtbare Landschaften und eine hochentwickelte Landwirtschaft, „Deutschland“ dagegen für höhere Kultur. Die beschriebene Realität war eine etwas andere: In Preußen regt sich Bronner wiederholt über Beamtenwillkür auf – auch das nicht ohne Einfluss zeitgenössischer Stereotype, daneben aber auch als Folge des desolates Zustand des Landes nach der Niederlage gegen Napoleon. In Russland vermerkt Bronner missmutig die ständige Notwendigkeit, Schmiergelder („Geschenke“) zu zahlen (Karte: „Punkte mit Beamten“ aktivieren; es empfiehlt sich, die Verbindungen wieder zu deaktivieren). Schon gleich an der Grenze hinter Memel erwähnt er seine anfängliche Hilflosigkeit gegenüber diesem System. Zu welcher Perfektion es entwickelt war, erfährt man eindrücklich auf der Heimreise, wenn Bronner beschreibt, wie ihn bei Radziwiłłów/Radziviliv ein jüdischer Gastwirt durch den russischen Ausfuhrzoll lotst. Die Karte zeigt im Übrigen, dass die Schmiergeldzahlungen auch in Österreich nicht ganz aufhörten. Bronners Bild von Polen (beginnend in den polnischen Teilungsgebieten Preußens) war durchgängig negativ. Sein negatives Judenbild war an die Begegnung mit den kulturell fremdartigen Ostjuden und deren Konzentration im russischen Ansiedlungsrayon geknüpft und konnte durch Erfahrungen teilweise korrigiert werden.
Als Element der Fremdheit kommt für Bronner im Baltikum – auch hier wieder erkennbar unter dem Einfluss des europäischen Diskurses – die Leibeigenschaft hinzu. Fast alles, was er dort negativ kommentiert, insbesondere die Armut der Landbevölkerung, bringt Bronner mit der Leibeigenschaft in Verbindung. Im Inneren Russlands ist sie für ihn dagegen nur noch am Rande ein Thema.
Selbst St. Petersburg macht hinter den Fassaden der prächtigen Häuser auf Bronner schon keinen so europäischen und zivilisierten Eindruck mehr. Seine Beschreibung der Hausflure dürfte bei vielen Leserinnen und Lesern Erinnerungen an eigene Beobachtungen aus spät- und auch noch postsowjetischer Zeit wecken.
Hinter der Hauptstadt geriet Bronner immer tiefer in die russische Provinz. Die Schilderungen, wie er von Kutschern bestohlen und von Bauern bei Streitereien sogar bedroht wurde, sprechen den Voraussagen der Petersburger Gewährsleute Hohn, dass Bronner dort bei ehrlichen „echten“ Russen gut aufgehoben sein werde. Trotzdem glaubte er offenbar anfangs selbst daran.
Aufs Ganze gesehen zeichnet sich bei Bronner das Bild einer kulturell niedriger stehenden Welt im Osten ab, ohne dass dieses Wort aber fällt. Sie beginnt allerdings bereits an der sächsisch-preußischen Grenze und klingt heimwärts nach dem Überschreiten der russisch-österreichischen Grenze in Galizien allmählich aus, aber sie endet erst wirklich bei Simbach an der bayerischen Grenze.
Wahrnehmung von Frauen
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Dies gilt cum grano salis auch für ein Thema, das für den im galanten Jahrhundert sozialisierten Bronner immer eine große Rolle spielte: die Frauen (auf der Karte „Punkte mit Frauen“ und „Geschlechtertrennung“ aktivieren; die „Punkte mit Beamten“ empfiehlt es sich auszuschalten). Bronner beschreibt auf der Reise immer die regionalen Frauentrachten (weiße Raute). Häufig hebt er – auf der Karte in Grüntönen markiert – das gute Aussehen junger Frauen hervor, aber ebenso auch kluges und geschicktes Verhalten. Kritische Bemerkungen – in roten Tönen – beziehen sich ebenfalls nicht nur auf das Äußere. Gerne wäre Bronner beweibt nach Kazan’ gekommen, und er machte deswegen im Vorfeld der Reise seiner langjährigen Angebeteten Küngold Tobler einen vergeblichen Heiratsantrag – ihr Bruder, ein wohlbestallter reformierter Pfarrer und Bronners engster Freund, widersetzte sich dem Russlandabenteuer vehement. Anschließend unternahm Bronner in Weimar noch einmal einen schüchternen Versuch bei der verwitweten Tochter Christoph Martin Wielands, deren Schwester mit einem anderen guten Freund Bronners verheiratet war, dem Sohn des schon erwähnten Dichters Salomon Gessner. Die zarte Anbahnung wurde allerdings durch die verdorbene Stimmung nach Wielands Kritik an Bronners monumentalem epischen Versuch „Der erste Krieg“ sowie durch die Ankunft von Gästen zunichte gemacht. Dessen ungeachtet erlaubte Bronner sich unterwegs gerne den einen oder anderen Flirt, und er berichtet auch von den erotischen Abenteuern seiner Reisegefährten. (Ernst und weniger ernst gemeinte Beziehungsinteressen sind in blauen und violetten Tönen markiert.) Frauen erscheinen bei Bronner bemerkenswert aktiv; auch als Reisende sind sie im Bericht in jeglicher Alters- und Standesgruppe, allein oder in Gesellschaft, stark präsent – die Reiseforschung hat dies im Übrigen bestätigt. Nach dem Überschreiten der russischen Grenze, im Baltikum, mischen sich auch kulturelle Unterschiede in das Bild. Vor allem die jungen Mädchen erscheinen Bronner sehr unbedeckt, was er mit Leibeigenschaft und Armut in Verbindung bringt. Die dahinter stehende andere Kleidertradition begreift er erst allmählich. In der besseren Gesellschaft des Baltikums wiederum beobachtet Bronner wiederholt ein für ihn ungewohntes Maß an Geschlechtertrennung, beispielsweise bei Tisch (große Kreise auf der Karte). Auf dem Land und in einfachen Herbergen war davon allerdings nichts zu spüren; alles schlief in einem Raum, während man in Deutschland längst schon Schlafstuben hatte, die von der Gaststube getrennt waren. Bronner vermerkt, dass das nicht jedem jungen Mädchen recht war, jedenfalls nicht im Beisein eines Herren aus der Stadt.
Kurz hinter Tichvin bestieg Bronner das Schiff eines Schweizer Kaufmanns, das ihn bis Kazan’ brachte. Vorher übernachtete er noch in einem russischen Bauernhaus. Die lebendige Schilderung des Lebens der Großfamilie – alle schlafen in einem Raum – erscheint in vieler Hinsicht als Fortsetzung dessen, was Bronner schon bei den Leibeigenen des Baltikums beobachtet hat – und liest sich wie eine lebendige Staffage des Bauernhofmuseums von Kiži.
Wie fremd Bronner die bäuerliche russische Familien- und Geschlechterordnung blieb, obwohl er die Dinge bemerkenswert genau beobachtete, zeigen einige Episoden auf der Heimreise, bei denen er seinen Unmut darüber äußert, dass russische Bauersfrauen ausgesprochen fordernd aufträten, wenn es ums Geld für kleine Dienstleistungen wie heißes Wasser gehe oder um Geschenke für ältere Familienmitglieder und für die Kinder. Obwohl aus einer armen ländlichen Familie stammend, hatte Bronner längst das städtische Ideal der zurückhaltenden Frau verinnerlicht – und nach sieben Jahren in Russland offenbar auch den Blick des russischen Gutsbesitzers: „Es scheint, Freygebigkeit mache Sklaven unersättlich.“ In der arbeitsteiligen russischen Bauernfamilie wusste indessen die Frau sehr wohl um ihren Herrschaftsbereich sowie um ihre Mitverantwortung für Einkommen und Wohlergehen der ganzen Familie.
Auch die gar nicht figurbetonte traditionelle russische Frauenkleidung fand bei dieser Gelegenheit keine Gnade vor den Augen unseres reisenden Ästheten, der ja aus einer Welt der Schnürbrüste kam.
Zusammenfassung
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Die hier zusammengetragenen Beobachtungen aus den Reisebeschreibungen Franz Xaver Bronners aus den Jahren 1810 und 1817 betreffen zwei unterschiedliche Aspekte: Die Vergleiche und die Bemerkungen über Korruption, Juden, Polen und Leibeigenschaft zeigen, was unser Reisender für Merkmale eines geordneten Staatswesens hält. Nur die südlichen Klein- und Mittelstaaten Deutschlands sowie die Schweiz erfüllen Bronners Ansprüche hier uneingeschränkt. Als Beispiele für einen „Kulturschock“ dienen uns Bronners Beobachtungen zu Frauen und Geschlechterbeziehungen. Der Raum der Verwunderung und Unverständnis auslösenden Andersartigkeit ist hier enger begrenzt, im Wesentlichen auf das Baltikum und das „eigentliche“ Russland. In jedem Fall ist der Einfluss der zeitgenössischen Diskussion und zeitgenössischer Vorurteile – auch aus dem Umfeld der russischen Gesprächspartner Bronners – nicht zu übersehen. Bei aller Herausarbeitung von Stereotypen darf man aber nicht verkennen, dass Bronner vor allem ein ungeheuer genauer und detaillierter Beobachter ist. Neben den schon erwähnten 1439 Orten erwähnt er mindestens 749 einzelne Personen, unter denen manche bekannte, aber auch viele namenlose sind. Die elektronische Edition der Reiseberichte wird einen detaillierten Zugang zu dieser wertvollen Informationsquelle eröffnen.