Die einen verschmähen es als Enklave einer konsumorientierten, unreflektierten Mittelschicht. Die anderen rühmen es als einzigartiges Städtebauprojekt. Über kein anderes polnisches Stadtviertel wurde so viel geschrieben und diskutiert wie über das Miasteczko Wilanów. Aber wo liegen die Wurzeln dieser Diskussion? Welchen Anteil haben Literatur und andere Kunstformen an der Reproduktion jener Narrative? Und wie sieht eigentlich die Realität hinter Stereotypen und urbanistischen Huldigungen aus?
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Folgt man dem Warschauer Königstrakt, einer der wichtigsten und ältesten Verkehrsachsen der polnischen Hauptstadt, aus der Innenstadt Richtung Süden, ist es nur eine Frage von 30 Busminuten, bevor man den Wildwuchs von Reihenhäusern aus den 1980er Jahren und brandneuen gated communities der ulica Sobieskiego verlässt, die die Innenstadt und den Süden Warschaus miteinander verbindet. Schon erscheinen farblich homogene, fünfgeschossige Gebäudeensembles vor einem, aus denen ein monumentales Gebäude wie ein gehobener Zeigefinger heraussticht: der Tempel der Göttlichen Vorsehung – ein Gotteshaus, dessen Bau zwar schon 1791 beschlossen, aber erst 200 Jahre später realisiert wurde. Im Gegensatz dazu ist die Geschichte des umliegenden Wohngebiets zeitlich überschaubar. 1998 konzipiert, begann die bis heute andauernde Bebauung vier Jahre später, nämlich 2002.1  Daran, dass sich hier vorher eine Sumpflandschaft befand, erinnert heute neben einem immensen Mückenaufkommen im Spätsommer nur noch der offizielle Name des Stadtteils Błonia Wilanowskie. Doch kaum jemand nennt diesen Stadtteil so. Ein anderer, heute viel bekannterer Name hat sich durchgesetzt: Miasteczko Wilanów.
Die Idee vom Städtchen in der Stadt
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Diese Bezeichnung kommt nicht von ungefähr. Sie resultiert aus dem ursprünglichen Baukonzept für das Gebiet, das 1998 von den Hauptinvestoren des Projekts Prokom und INVI Investments entwickelt wurde.2  Geplant war ein Städtchen in der Stadt, ein miasteczko3  eben, das quasi autark Wohn- und Arbeitsraum sowie Dienstleistungs- und Bildungsangebote miteinander in fußläufig erreichbarer Entfernung vereinen sollte. Ein Wohnviertel ohne die in den 1990er Jahren in Warschau so populär gewordenen gated communities. Stattdessen war ein hoher Anteil gemeinschaftlich genutzter Flächen und eine heterogene Einwohner:innenschaft vorgesehen. Es sollte ein Städtchen werden, in dem jeder sein Recht auf Stadt erhält und in einer aktiven Nachbarschaftskultur ausüben kann.4  Diese Ideen machten das Vorhaben zu einem Vorzeigeprojekt der architektonischen New Urbanism-Bewegung, die sich zum Zeitpunkt der Konzeption des Miasteczko Wilanów formierte.
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Als weitere konzeptionelle Säule für das Bauvorhaben wählte man die Idee der Gartenstadt von Ebenezer Howard.5  So sollte das Miasteczko, wie auch die Howard’sche Garden City, maximal 30.000 Menschen aus unterschiedlichen sozialen Schichten beherbergen. Darüber hinaus sollte es von öffentlichen Grünflächen dominiert und effizient an andere Stadtteile angebunden sein. Geplant waren diverse Freizeitmöglichkeiten, darunter ein Wasserbecken, das im Sommer als Planschbecken, im Winter als Eisbahn genutzt werden sollte, und ein großer Park zwischen dem Miasteczko und dem ehemaligen Königsschloss in Wilanów. Auch ein Marktplatz, der an die ursprüngliche, ländliche Tradition des Gebiets erinnern sollte, sollte entstehen.6  Architektonisch gesehen sah der von den ausführenden Bauunternehmen entwickelte Masterplan vor, dass die Gebäude eine bestimmte Bauhöhe nicht übersteigen und eine vorgegebene Farbgebung befolgen.7  Diese ambitionierten Pläne verschafften dem Projekt hochkarätige Auszeichnungen im Bereich des Städtebaus, darunter den „Excellence Award“ des internationalen Planerverbands ISOCARP und den „Global Award of Excellence“ des Urban Land Institute.
Spaziert man heute durch das Miasteczko Wilanów, sind neben den vereinzelten Wasserspielen die Höhenvorgaben wohl eines der Ergebnisse des Masterplans, die am meisten ins Auge stechen. Und tatsächlich gibt es kein Gebäude, das mehr als fünf Stockwerke besitzt. Das oberste ist dabei stets ein wenig zurückgesetzt, wodurch die Sichtachsen aufgelockert werden. Auch die Farbgebung war (bis zuletzt)8  im gesamten Stadtviertel einheitlich—eine Homogenität, die durch die Anpassung des Außenbilds kommerzieller Lokale an ebenjene Maßgaben gestärkt wird. Eine Ausnahme hiervon bildet die bereits erwähnte Kirche. Der Tempel der Göttlichen Vorsehung (Świątynia Opatrzności Bożej), wie das Gotteshaus offiziell heißt, wurde komplett unabhängig vom restlichen Bauprojekt geplant und realisiert. Zwar sollten die Grünflächen, die die Kirche umgeben, zu einem Park umgestaltet und die Kirche damit dem grünen und offenen Konzept des Miasteczko angepasst werden. Der bis heute die Kirche umgebende Bauzaun verdeutlicht jedoch, dass jene städtebauliche Integration ihre Realisierung noch erwartet.
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Dass nur ein Bruchteil der geplanten Ideen des ursprünglichen Baukonzepts umgesetzt wurde, zeigen aber auch zahlreiche urbanistische Studien.9  So lebten bereits 2021 knapp 42.000 Menschen im Miasteczko, was die ursprünglich geplante Einwohner:innenzahl bei weitem übersteigt. Auch der vorgesehene Grünflächenanteil von zwei Dritteln der Gesamtfläche ist nicht realisiert worden. Dadurch sind viele Freizeitangebote, Parks und öffentliche Plätze weggefallen, was das Projekt immer weiter von der Ursprungsidee der Garden City entfernte.
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Stattdessen gibt es die der Ursprungsidee entgegengesetzten gated communities. Ein freies Spazieren durch die Straßen und Grünflächen des Viertels, wie es anfangs imaginiert (und verkauft) wurde, ist deshalb nicht möglich. Weitere Hindernisse bilden die vielen auf den Gehwegen parkenden Autos, für die zu wenig Parkplätze eingeplant wurden. Besonders kritisch gestaltet sich die Parkplatzsituation, wenn im Tempel der Göttlichen Vorsehung religiöse Feierlichkeiten stattfinden. Durch Straßensperren und Pilgertourismus wird der sowieso schon knappe Platz dann noch limitierter.
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Entgegen der ursprünglichen Absichten entstand im Miasteczko Wilanów sogar der erste private Park des 21. Jahrhunderts, der nur für Bewohner:innen der zugehörigen Wohnanlage zugänglich ist.10  Von der anvisierten Fusion von Arbeiten und Wohnen ist die heutige Realität ebenfalls weit entfernt. Nur wenige Büroflächen stehen zur Verfügung. Die meisten Personen pendeln zum Arbeitsplatz mit dem Auto oder Bus in die Warschauer Innenstadt.
Für die Abweichungen vom Ursprungskonzept machen Beobachter:innen die privatwirtschaftliche Organisation des Bauvorhabens verantwortlich. Tatsächlich planten, konzipierten und führten das Projekt nicht die Stadt Warschau, sondern private Baufirmen durch. Diese wiederum prüften zwar beim Weiterverkauf von Baufeldern die Einhaltung der im Masterplan festgehaltenen Aspekte. Da dieser  jedoch eher eine Art Leitfaden und der von der Stadt abgenommene, rechtlich bindende Bebauungsplan allgemein gehalten war, wurden auch Projekte zugelassen, die z.B. nicht die anfangs festgesetzte Grünflächenanteile befolgten.11
Vom utopischen Bauprojekt zur gesellschaftlich-kulturellen Imagination
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Durch die Größe des Projektes erhielt das eigentlich private Bauvorhaben Relevanz auf stadtpolitischer Ebene. Kurz nach Fertigstellung der ersten Wohnblöcke verlangten die neuen Einwohner:innen nämlich nach einer angemessenen Bildungs- und Verkehrsinfrastruktur. Private Investoren hatten eine solche nicht vorgesehen, die städtischen Organe nicht bedacht. Gleichzeitig provozierte der Zuzug einer jungen, gebildeten, gutverdienenden Mittelschicht in den Stadtteil in der Öffentlichkeit kritische Stimmen, die immer lauter behaupteten, dass es sich hierbei um die Bildung einer elitären, politisch und sozial homogenen Enklave handle.
Zu einem Schlüsselmoment im öffentlich Diskurs über das Miasteczko wurden die Präsidentschaftswahlen 2010, bei denen 80% der Einwohner:innen des Miasteczko Wilanów den Kandidaten der liberalen Platforma Obywatelska (PO) Bronisław Komorowski wählten. Diese bemerkenswerte Quote hatte in der polnischen Medienlandschaft heftige Diskussionen darüber zur Folge, welche Gesellschaftsschicht eine Partei nun gewinnen müsse, um die Wahlen für sich zu entscheiden. (Links)liberale Medien postulierten, dass in Zukunft die junge großstädtische Mittelschicht wahlentscheidend sein würde und damit national-konservative Bewegungen in die Marginale treten würden.12  Rechtspopulistische Medien begannen daraufhin, ebenjene jungen Großstädter:innen als politisch unreflektierte Mitläufer:innen zu verteufeln. Zu Stellvertreter:innen dieser Bevölkerungsgruppe evolvierten auf beiden Seiten der Debatte die Bewohner:innen des Miasteczko Wilanów.
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Das rechte Blatt Uważam Rze bezeichnete die Einwohner:innen des Miasteczko gar als Lemminge, die, angelehnt an das Herdenverhalten des gleichnamigen Tiers, kritiklos politischen Parolen liberaler Parteien und Medien folgen. Wohnhaft wären diese Ja-Sager:innen in geschlossenen Neubausiedlungen. Ihren üppigen Lebensunterhalt verdienten sie in internationalen Korporationen, den sie wiederum für sinnlosen Konsum verschwendeten.13  Das Miasteczko selbst wurde nun zu Lemingrad—eine Anspielung darauf, dass direkt nebenan, im alten Teil des Warschauer Bezirks Wilanów, noch in der Volksrepublik Polen die kommunistische Führungsriege residierte.14  Ausschlaggebend für jene Allusion war zum einen die geografische Nähe der Wohnviertel zueinander, zum anderen aber auch die vermeintliche Bildung einer elitären Enklave. Analogien fanden rechtspopulistische Medien zudem in Hinblick auf den politischen Opportunismus der Einwohner:innen der zwei Viertel. Wie zuvor die kommunistischen Eliten im ‚alten‘ Wilanów wurden nun die Bewohner:innen des Miasteczko zu gesellschaftspolitischen Wendehälsen, die unreflektiert Parolen einer bestimmten politischen Partei – in diesem Fall der PO – folgten.
Basierend auf jenem publizistischen Diskurs entstand im (populär)kulturellen Kontext eine ähnlich stereotype Imagination des Stadtviertels. In literarischen Texten und szenischen Produktionen wurden und werden die Einwohner:innen des Miasteczko bis heute zu einer homogenen, reichen, konsumorientierten und sich vom Rest der Gesellschaft und Stadt isolierenden Kaste stilisiert. Am treffendsten demonstriert das die Darstellung der Wilanówer Mittelschicht im Improvisationstheaterstück Żony Wilanowa des Warschauer Klub Komediowy. Angelehnt an populäre Serien und Filme wie Desperate Housewives und Stepford Wives zeigt das Kabaretttheater das Leben von reichen, aber gelangweilten Frauen, die vom Geld ihres (Ex-)Mannes leben und deren Alltag eine sich immer wiederholende Abfolge von Schönheitsbehandlungen, Pilates und Einkaufsbummeln darstellt.

Żony Wilanowa - trailer

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Als weniger gelangweilt, aber ähnlich wohlhabend beschreibt die Vlogerin Klaudia Klara die Bewohner:innen des Miasteczko in ihrem Ratgeber Poradnik Szczęśliwej Singielki (2017).
 
Bei ihr wird der Stadtteil von sog. „Korpoludki“15  bewohnt, von jungen, ambitionierten Angestellten internationaler Korporationen, Workaholics aus dem Marketingbereich. Paradigmatisch für jene Gesellschaftsschicht steht die Figur der „Excel-Anka“ (82). Als Excel-Anka aus dem Warschauer Zentrum ins Miasteczko zieht, bekommt die Erzählerin ihre Freundin nur noch selten und wenn, dann für einen einzigen Drink zu Gesicht. Der Heimweg sei zu weit, sagt Excel-Anka: „Ja nie mogę długo zostać. – Excel-Anka zawsze tak mówi. […] – Powrót do Miasteczka Wilanów zajmie Bóg wie ile, a muszę jeszcze popracować w nocy […]“.16  Die homogene und in sich geschlossene Bewohner:innenstruktur des Stadtviertels wird in Klaras Text noch deutlicher, als sich herausstellt, dass ebenjene Excel-Anka ihren Traummann zwar bei einer arbeitsbezogenen Schulung kennenlernt, sich dann jedoch herausstellt, dass dieser auch im Miasteczko wohnt.
Klaras populärliterarischer Text und das Impro-Kabarett Żony Wilanowa reproduzieren somit die Idee vom Miasteczko als Enklave einer reichen, beruflich erfolgreichen, homogenen Mittelschicht. Im Unterschied zu den rechtspopulistischen Narrativen über Lemingrad und die darin heimischen lemingi ordnen sie die Einwohner:innenschaft des Miasteczko jedoch nicht gesellschaftspolitisch ein.
Anders verfahren Grzegorz Kalinowski in dem satirischen Roman Generacja X, czyli Kryzys Wieku Średniego (2021) und der polnische Musikjournalist und Produzent Jan Chojnacki in seiner Autobiografie Blues z kapustą (2016).
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So lebt eine der Protagonist:innen in Kalinowskis Roman im Miasteczko Wilanów in einer Wohnung, die ihr nach der Scheidung von ihrem Mann zufällt. Auch hier wird das Miasteczko als Ort beschrieben, an dem eine neue Warschauer Mittelschicht ihr „Eldorado” gefunden hat: „Kierownicy, menedżerowie, właściciele małych i średnich firm, pracownicy nieodległego TVN-u, czyli ogólnie rzecz biorąc: wszyscy, którym się udało […]. Młoda, prężna i wciąż rosnąca grupa, którą reszta warszawiaków nazywa korpoludkami lub lemingami, a ich dzielnicę – Lemingradem”.17  Doch der Erzähler lässt jene despektierlichen Fremdzuschreibungen nicht unkommentiert. Deutlich weist er darauf hin, dass viele Äußerungen aus Neid und Missgunst getätigt werden: „Dla jednych brzmiało to pretensjonalnie – ci wypowiadali nazwę warszawskiej dzielnicy z przekąsem. Ci nieliczni, którzy mieszkali lepiej, nie mieli takich obiekcji, ale przeważali zazdrośnicy, którzy chętnie sami by się tam przeprowadzili”.18
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Weniger reflektiert fällt die Darstellung bei Chojnacki aus. Er zitiert den von rechtspopulistischen Medien eingeführten Terminus der Lemminge, ohne auf die Herkunft dieser Formulierung einzugehen: „Tam gdzie dziś jest ostoja lemingów, czyli Miasteczko Wilanów, rozciągały się aż po Ursynów pola i nieużytki. Nieopodal miejsca, w którym straszy świątynia Opatrzności, było wysypisko śmieci, a w nim wielki dół zwany kopciówą“.19  Dennoch gibt es Parallelen zwischen der Darstellung des Miasteczko bei Chojnacki und jener bei Kalinowski. Denn wie Chojnacki, der nostalgisch auf die frühere Naturbelassenheit des Gebiets und dessen peripheren Charakter zurückblickt und damit eine Art ursprüngliche, durch die fortschreitende Urbanisierung verlorene Räumlichkeit heraufbeschwört, bringt auch Kalinowski den Stadtteil in seinem Roman mit einer kolonisatorischen Praxis in Verbindung. So beschreibt er die aus ganz Polen kommenden Einwohner:innen des Miasteczko als Eindringlinge, die „jak Cortés w Ameryce“20  die polnische Hauptstadt erobern.
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Und auch die renommierte polnische Schriftstellerin Joanna Bator bedient sich in Rekin z parku Yoyogi (2014) im Rahmen eines kurzen Seitenhiebs auf das Neubauviertel jener Imagination des Miasteczko als Usurpator einer davor dagewesenen Natürlichkeit. Bringt Chojnacki den Ort, an dem das Miasteczko erbaut wurde, mit (illegalen) Müllhalden und -verbrennungen in Verbindung, romantisiert Bator hingegen die Unbebautheit jenes Viertels als naturbelassene Idylle. Das „paskudne miasteczko Wilanów“ entstand der Erzählerin zufolge „na miejscu pięknych łąk i pól kapusty”.21
Insgesamt dominiert also in kulturellen Produktionen wie auch im rechtspopulistischen medialen Diskurs eine Imagination des Miasteczko Wilanów als homogene, städtische Enklave, in der sich meist aus anderen Teilen Polens stammende, wohlhabende Menschen isolieren. Gleichzeitig wird aber auch der intrusive Charakter des Bauprojekts thematisiert. Das Miasteczko wird nicht in seiner ursprünglichen Konzeption, nämlich als naturorientierte Gartenstadt, reflektiert, sondern vielmehr als Vergewaltigung ebenjener Natürlichkeit beschrieben.
Tatsächlich bleiben die hier diskutierten Beschreibungen des Miasteczko jedoch alle oberflächlich. Das Viertel dient dabei eher als nebensächliches Setting, um gesellschaftliche Debatten auszutragen, oder soll als Gemeinplatz die Charakterbeschreibung von Protagonist:innen verdeutlichen. Dadurch gleicht der Blick auf jenen Stadtteil oft einer abstrahierenden Vogelperspektive, in der bereits bekannte Vorurteile unreflektiert reproduziert werden. Eine Perspektive von innen und damit eine konkrete Thematisierung der Lebensbedingungen bieten nur wenige Produktionen. Eine solche Ausnahme ist der Kurzfilm Na Kredyt (2008). Er fokussiert die Erlebnisse eines jungen Ehepaars, das in eines der ersten fertiggestellten Gebäude im Miasteczko zieht. Um den Kredit für die neue Wohnung zu bezahlen, müssen die beiden Protagonist:innen so viel arbeiten, dass sie sich gegenseitig kaum noch sehen. In Kontakt bleiben sie über Videoaufnahmen, die sie einander in der Wohnung hinterlassen, was jedoch schlussendlich zu einer Entfremdung voneinander und der Trennung sowie dem Verkauf der Wohnung führt. Der Film zeigt eine weniger perfekte und vor allem eine weniger politisierte Welt des Miasteczko. Vielmehr weist er darauf hin, wie die Imagination vom guten Leben in großen, neuen Wohnungen, wie sie durch die Kommerzialisierung des Wohnungsmarkts insbesondere Anfang der 2000er Jahre in Polen jungen Menschen eingeimpft wurde, schnell zu einer Dystopie werden kann, wenn das Bezahlen jenes ‚guten Lebens‘ konkret dessen Verlust bewirkt. Tatsächlich kauften viele Personen, die ins Miasteczko zogen, Immobilien, die sie sich nur mit Krediten mit 30 Jahren Laufzeit und riskanten Kreditraten leisten konnten, und bezahlten den Preis für jene Imaginationen mit einem maßgeblichen Einschnitt in die eigene Lebensqualität.22
Der konkrete Kampf um ein Recht auf Stadt
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Doch wie erleben die Einwohner:innen selbst jene Narrativisierung(en)? Bereits 2013 widmete sich die Gazeta Wyborcza in einer Reportage den Reaktionen der Bewohner:innen des Miasteczko auf die pauschalisierenden Fremdzuschreibungen.23   Die Stellungnahmen zeigen deutlich, dass die Personen sich durchaus mit einigen der Charakterisierungen identifizieren. Sie legen aber auch offen, dass die Motivationen für den Zuzug ins Miasteczko bzw. den Kauf einer Wohnung sowie die Meinung über das Leben dort divergieren. Insgesamt überwiegt jedoch schon damals die Einstellung, dass jene Fremdzuschreibungen künstlich seien und von außen den Einwohner:innen aufoktroyiert würden. Eine der Interviewten fasst zusammen:
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 „[…] jesteśmy już zmęczeni dyskusją o lemingach. Człowiek kupił mieszkanie ze względu na cenę, rozkład i widok z okna, a nagle okazuje się, że staliśmy się członkami jakiejś grupy społecznej. Do niedawna żyliśmy tu spokojnie, nieświadomi naszej politycznej roli!“24

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Circa zehn Jahre später hört man ähnliche Reaktionen. In den Interviews, die ich mit Einwohner:innen des Miasteczko im September 2022 durchführte, reagieren die meisten meiner Gesprächspartner:innen auf die Frage, mit welcher öffentlichen Meinung sie über das Miasteczko konfrontiert würden und wie sie diese einordnen, nüchtern.25  Der gebürtige Warschauer Adam, 38, seit 2005 fast durchgängig im Miasteczko wohnhaft, meint, das Stadtviertel pauschal als eine Agglomeration unreflektierter Menschen zu bezeichnen, sei Resultat einer gesamtpolnischen Kultur, in der Neid und Missgunst gegenüber wohlhabenden Personen herrschten. Ähnliches konstatiert Ania, 31, die seit 6 Jahren im Miasteczko lebt und aus Südpolen stammt. Ihrer Meinung nach sind die immer noch existenten Vorurteile realitätsfremd. Wohnungen in anderen Teilen Warschaus seien mittlerweile mindestens genauso teuer. Zudem würden, so Ania weiter, viele Pol:innen aufgrund der gesellschaftlichen Spaltung einfach beliebig nach Themen suchen, um den Wohlstand anderer kritisieren zu können. Gleichzeitig weist sie jedoch auf die Homogenität und Geschlossenheit des Viertels hin: „Die Leute hier haben ein ähnliches Weltbild. Dadurch kann der Anschein einer geschlossenen Gesellschaft entstehen. Das kann für andere störend sein“. Auch sie selbst habe kaum regelmäßigen Kontakt zu Personen außerhalb des Miasteczko. Umso wichtiger sei für sie das nachbarschaftliche Netzwerk innerhalb des Viertels, das ihres Erachtens ein Alleinstellungsmerkmal darstellt: „In unserer alten Wohnung in Kabaty war es anonymer“.
Magda, Mutter von zwei älteren Kindern (11 & 19 Jahre), seit 2019 im Miasteczko wohnhaft, bewertet den nachbarschaftlichen Aspekt anders. Ihre Nachbar:innen kennt sie, wie auch Adam, kaum. Das Besondere des Miasteczko sieht sie vielmehr in der architektonischen Homogenität und der Sicherheit, die dieses Viertel bietet. Von anderen polnischen Stadtvierteln würde das Miasteczko sich aber am meisten durch seine Multikulturalität auszeichnen. „Wenn man hier hineinfährt, dann wirkt es nicht wie ein polnisches Stadtviertel. Ausländer:innen fühlen sich hier wie bei sich zu Hause. Es gibt eine Toleranz, nicht wie im Rest Polens. Es ist wie eine Art Enklave,“ fasst Magda zusammen. Jan, 39, gebürtiger Deutscher, der im Miasteczko ein Jahr lang lebte, bestätigt diese Feststellung: „Wenn man die Einwohnerstruktur des Miasteczko mit jenen anderer europäischer Städte vergleicht, ist sie natürlich nicht besonders international. Für polnische Verhältnisse aber schon“.
Miasteczko Wilanów ist in den Augen seiner Bewohner:innen also für polnische Verhältnisse etwas Besonderes. Multikulturell, tolerant, weltoffen. Statistisch lassen sich diese subjektiven Eindrücke nur schwer belegen. Zahlen aus dem Jahr 2017 suggerieren zwar, dass der Bezirk Wilanów den höchsten Anteil an Ausländer:innen hat. Das Miasteczko stellt jedoch nur einen Teil dieses Gesamtbezirks dar. Rückschlüsse von diesen allgemeinen Zahlen auf die konkrete Bevölkerungszusammenstellung des Wohnviertels sind problematisch. Aktuelle Statistiken, die Aufschluss über die Einwohner:innenstruktur des Miasteczko geben könnte, existieren nicht. Und auch Daten zu Zufriedenheit und Lebensbedingungen von im Miasteczko wohnhaften Menschen aus dem Ausland sind nicht vorhanden.
Fest steht jedoch, dass die Wahrnehmung des Viertels durch seine Bewohner:innen durchaus positiv ist. Miasteczko Wilanów, so alle Befragten, habe viele Freizeitmöglichkeiten zu bieten—zumindest für bestimmte Altersklassen. „Es ist keine Schlafstadt, sondern tatsächlich eine Stadt in der Stadt“, konstatiert Magda. „Das hat mich positiv überrascht, als wir hierhergezogen sind. Man kann hier auch seine Freizeit verbringen“. Für ihre ältere Tochter treffe dies jedoch nicht zu. Für Teenager und junge Erwachsene gebe es nämlich kaum Angebote. Tatsächlich fehlen Parkanlagen, Skateparks, Clubs. „Mir ist bewusst, dass das Miasteczko ein guter Ort für kleine Kinder ist. Für ältere aber nicht mehr,“ stellt auch Ania fest.
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Öffentliche Schulen gibt es kaum und wenn, dann nur auf Grundschulniveau.Auch die Kindergärten sind größtenteils privat. Überhaupt lässt die öffentliche Infrastruktur zu wünschen übrig. Öffentliche Parkanlagen, wie sie ursprünglich vorgesehen waren, wurden immer noch nicht realisiert, öffentliche Spielplätze gibt es wenige, allen zugängliche Grünflächen sind selten. Zum Fußballspielen, Fahrradfahren und Skateboarden wird von Kindern deshalb auch häufig der riesige, oftmals leere Vorplatz des Tempels genutzt. Ob dieselben Kinder in ebenjenem Gotteshaus auch sonntags mit ihren Eltern den Gottesdienst feiern, ist eher fraglich. Denn schon 2016 war im Miasteczko Wilanów nicht einmal die Hälfte der dort lebenden Kinder katholisch getauft.26
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Den Grund für die städtebaulichen Versäumnisse sieht Adam, ähnlich wie die professionellen Beobachter:innen, darin, dass die Planung des Miasteczko von Anfang an in private Hände gegeben wurde: „Das waren utopische Konzepte, von denen man sich wegen Kapitalrenditen immer weiter entfernt hat. Da hat der öffentliche Sektor versagt“. Eine größere Rolle als die medial und kulturell (re)produzierten Stereotypen spielen für die konkrete Lebensrealität der Menschen im Miasteczko also die stadtplanerischen und stadtpolitischen Versäumnisse.
 
Während auf politischer und publizistischer Ebene das Miasteczko Wilanów noch immer als Symbol für die wohlhabende Großstädter:innenschaft instrumentalisiert bzw. diskutiert wird,27  engagieren sich die Einwohner:innen seit über zehn Jahren abseits jeglicher Parteizugehörigkeit im Stowarzyszenie Mieszkańców Miasteczka Wilanów (SMMW)28  auf kommunaler Ebene für die Erhöhung der Lebensqualität im eigenen Viertel. Dabei nehmen sie oftmals eine vermittelnde Position zwischen privatem Investor und öffentlicher Hand ein. Durch dieses bürgerschaftliche Engagement wurde der Bau eines großen Einkaufszentrums gestoppt und die bauliche Umsetzung der öffentlichen Grundschulen maßgeblich vorangetrieben. Letzteres erforderte eine Einigung zwischen öffentlicher Hand und Investoren, da das Grundstück für die Schule von der Stadt vom privaten Investor erst erworben werden musste. Außerdem wurden inzwischen Hunderte Bäume gepflanzt – die meisten von den Einwohner:innen selbst. „Weil die Leute Lust haben,“ meint Małgorzata Gabriel, Mitglied des SMMW, in einem Interview mit der Gazeta Wyborcza.29  Wahrscheinlich aber auch, weil sie es sich leisten können, gemeinnützige Projekte zu finanzieren und sie zeitlich zu realisieren. Denn: „Im Miasteczko leben keine armen Menschen,“ stellt meine Interviewpartnerin Ania fest. „Das heißt aber nicht, dass sie es nicht verdient haben“.
Offen bleibt die Frage, inwiefern dieser sich stetig weiterentwickelnde und konstant wachsende Stadtteil die (finanzielle) Zuwendung der Stadt verdient hat.
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Ende 2021 protestierte die Bezirksverwaltung, als die Stadtverwaltung das Budget für den Bezirk Wilanów drastisch beschnitt.30  Erst vor kurzem wurde der Bau der seit Entstehung des Miasteczko versprochenen Straßenbahnlinie begonnen, die das Miasteczko mit der Innenstadt verbinden wird. Die zwei bestehenden öffentlichen Grundschulen platzen aus allen Nähten31  und erst Anfang 2022 wurde die Verkehrssituation durch die Eröffnung einer Verbindungsstraße zwischen dem Miasteczko und dem angrenzenden Stadtteil Ursynów entspannt. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob die durch Medien und kulturelle Produktionen proklamierte Isolation der Einwohner:innen von ebenjenen selbst betrieben wird oder eher auf einem reziproken Verhältnis zwischen stereotyper Außendarstellung und stadtplanerischer Vernachlässigung auf der einen und einer daraus resultierenden Abschottung und der Konzentration auf dem Eigenen auf der anderen Seite basiert. Fakt ist, dass in diesem Stadtteil der Kampf um ein Recht auf Stadt in vollem Gange ist – wahrscheinlich das einzige Relikt der ursprünglichen, auf den Konzepten des New Urbanism und Howard’s Garden Cities beruhenden Idee des Miasteczko Wilanów.