Die Geschichte der ostpolnischen Nekropole ist ein Brennglas auf die Verwerfungen des 20. Jahrhunderts und die polnisch-jüdischen Beziehungen nach der Shoa. Die heutige Erinnerung an den geschichtsträchtigen Ort oszilliert zwischen Desinteresse, städtischer Imagepflege und ritualisiertem Pflichtbewusstsein.
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Wer heute das Stadtzentrum der ostpolnischen Metropole 
Bialystok
bel. Belastok, bel. Беласток, yid. ביאליסטאק, deu. Bjelostock, deu. Byelostok

Bialystok ist eine Stadt im Nordosten Polens und Sitz des katholischen Erzbistums gleichen Namens. Die Stadt wurde vermutlich im 14. Jahrhundert gegründet, wird aber erstmals im 16. Jahrhundert erstmals erwähnt. Seit 1692 besitzt die Stadt das Stadtrecht und gehörte ab 1795 zu Preußen, mit dem Frieden von Tilsit ab 1807 zu Russländischen Reich. Nach dem Ersten Weltkrieg gehörte die Stadt zur polnischen Republik bis sie nach abwechselnde Okkupation durch deutsche und russische Truppen ab September 1939 schließlich am 29. November in die Sowjetunion eingegliedert wurde. 1941 wurde die Stadt an das "Großdeutsche Reich" angegliedert wurde. Juden stellten bis dahin oft die Bevölkerungsmehrheit in der Stadt. Heute ist sie die Hauptstadt der Woiwodschaft Podlachien und ein Zentrum der Elektro-, Metall- und Bierindustrie mit etlichen Hochschulen.

 verlässt und die dichtbefahrene Piłsudski-Allee überquert, findet an der Żabia-Strasse, zwischen mächtigen Plattenbauten und Parkplätzen eingeklemmt, eine ziemlich unspektakulär anmutende Grünfläche vor: in die Jahre gekommene Parkbänke, nachlässig gestutzte Rasenflächen, mächtige Kastanienbäume. Abgesehen von einigen Senior:innen, die sich beim Schleppen ihrer Einkaufstüten eine Pause genehmigen oder mit alten Brotresten die Stadttauben füttern, herrscht hier an einem gewöhnlichen Wochentag gepflegte Langeweile.
Alles andere als langweilig ist jedoch die Geschichte dieses Ortes: Wer die Zeitschichten unter der begrünten Oberfläche des Mordechaj-Tenenbaum-Platzes, der im Białystoker Volksmund bis heute „Żabia-Friedhof“ genannt wird, freilegt, stößt auf diverse Bedeutungen, die in diese Fläche eingeschrieben sind. Sie diente als Friedhof, als Gedenkstätte, wurde zum Spielball eines politischen Machtkampfs und fungiert heute nicht nur als Naherholungsraum, sondern auch als Vehikel der internationalen Diplomatie. Die Geschichte dieses Ortes ist symptomatisch für die Verwerfungen des 20. Jahrhunderts in Ostmitteleuropa, gleichzeitig aber auch ein Prisma auf den ambivalenten, geschichtspolitisch aufgeladenen Umgang mit dem jüdischen Erbe im heutigen Polen.
Ein Friedhof innerhalb der Ghetto-Mauern
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Ab dem Zeitpunkt, als die Wehrmacht im Zuge des Unternehmens Barbarossa Unternehmens Barbarossa Bei dem Unternehmen Barbarossa handelt es sich um einen Decknamen für den Angriffskrieg der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion, der am 22. Juni 1941 initiiert wurde.  am 27. Juni 1941 in Białystok einmarschierte, begannen die deutschen Besatzer unmittelbar mit der Ermordung und Schikane der jüdischen Stadtbevölkerung. Bereits am ersten Tag der Okkupation, dem sogenannten ‚schwarzen Freitag‘, wurden mehrere hundert Jüdinnen:Juden von einem Polizeibataillon in die Große Synagoge gesperrt und samt dem Gebetshaus bei lebendigem Leibe verbrannt.1 Bereits einen Monat darauf errichtete die Militärverwaltung ein Ghetto mitten im industriellen Viertel der Stadt. Rund 50.000 Jüd:innen aus Białystok und Umgebung sperrten die Besatzer dort ein.2 Im Zuge der Aufbauarbeiten wurde eine rund ein Hektar große Brachfläche im Nordwesten des Ghetto-Territoriums zum Friedhof umfunktioniert. Der Żabia-Gottesacker war während des Zweiten Weltkriegs einer der wenigen Friedhöfe, die innerhalb der Mauern eines Ghettos angelegt wurden. Die eingesperrte jüdische Bevölkerung nutzte eine Brachfläche zu einem improvisierten Grabfeld um und formierte eine Beerdigungsgesellschaft (Chewra Kadischa), deren Mitglieder die im Ghetto Verendeten zu Grabe trugen und den Friedhof rund zwei Jahre lang betrieben. Dem Historiker Tomasz Wiśniewski zufolge wurden auf der Nekropole
Nekropole
Erstmals taucht der Begriff bei Strabon in seinen Geographien auf (Strabon, 17,1,10; 14). Dort beschreibt der Begriff Nekropole einen weitläufigen Friedhof in Alexandria mit Gartenanlagen, Grabstellen und Balsamierungsmöglichkeiten.
 bis 1943 rund 3.500 Menschen begraben. Die meisten Mazewot
Mazewa
auch:
Mazewot, Mazzevah
Mazewa (Plural: Mazewot) ist ein jüdischer Grabstein, auf dem üblicherweise eine hebräische Inschrift angebracht ist.
 waren klein, improvisiert und bis auf wenige Ausnahmen, aus Holz.3 Mit der Verschlimmerung der Zustände im Ghetto und den steigenden Opferzahlen wurden die Menschen zusehends in Massengräbern verscharrt.4 Als im Februar 1943 die Deportationen nach Auschwitz und Treblinka begannen, entschloss sich der zionistische und bundistische
Der Bund
auch:
Allgemeiner jüdischer Arbeiterbund in Litauen, Polen und Russland
Der «Allgemeine jüdische Arbeiterbund in Litauen, Polen und Russland» wurde 1897 in Vilnius gegründet und vereinte zahlreiche Sozialisten jüdischer Herkunft. Die Bundisten standen dem Wunsch nach einem jüdischen Staat, wie ihn der Zionismus propagierte, ablehnend entgegen und setzten sich für ausgebaute jüdische Autonomierechte in der Diaspora ein. Während des Zweiten Weltkriegs operierte der polnische Zweig des Bundes im Untergrund weiter und beteiligte sich unter anderem am Warschauer Ghettoaufstand.
 Untergrund im Ghetto, aktiv zu werden und plante einen Aufstand, der am 16. August desselben Jahres unter der Führung des 27-jährigen Kommandeurs Mordechaj Tenenbaum in die Tat umgesetzt wurde.5 Die Niederschlagung des erbitterten, letztlich aber chancenlosen Widerstands hielt die Deportationen in die Todeslager vier Tage lang auf. Im Zuge der Liquidation des Ghettos, die bis zum 8. September 1943 dauerte, wurde auch der Friedhof an der Żabia-Strasse zerstört.6 Übrig blieb wenig mehr als verbrannte Erde, wie der Augenzeuge Szymon Datner später berichten sollte:

Unkraut und wildes Gras sowie Müll und Dung bedeckten den Friedhof von Zabia. Ziegen hatten auf diesem heiligen Boden geweidet und die meisten Grabsteine zerstört.

Datner, Szymon: The Sacred Zabia Cemetery, in: Scmulewitz, Izaak; Rybal, Izaak (Hg.): The Bialystoker Memorial Book, New York 1982, S. 127–128.
Der Wiederaufbau nach dem Krieg
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Datner, ein Überlebender des Ghettoaufstands, bedeutender Historiker und späterer Direktor des Jüdischen Historischen Instituts in Warschau, bemühte sich gemeinsam mit weiteren Überlebenden bereits im Jahr 1945 darum, die jüdische Gemeinde in Białystok wiederaufzubauen und den Ghettofriedhof in Ordnung zu bringen: Sie jäteten das Unkraut von den verbliebenen Gräbern, bauten eine Backsteinmauer um die Nekropole und engagierten Wachpersonal, um nächtliche Akte des Vandalismus zu unterbinden.7 Ermöglicht wurden diese Massnahmen durch Hilfszahlungen aus den USA, vermutlich durch die amerikanisch-jüdische Hilfsorganisation «American Joint Distribution Comitee».8 Das Ziel der Białystoker Jüdinnen:Juden war es nicht nur, den Ghettofriedhof weiter als Nekropole zu nutzen: Der symbolisch wertvolle Ort sollte auch zu einer Gedenkstätte für den jüdischen Widerstand gegen die Nazi-Gräuel werden. Bereits im August 1945 wurde anlässlich des zweiten Jubiläums des Ghettoaufstands ein vier Meter hoher und mit einem Davidstern gekrönter Obelisk enthüllt, 1947 folgte ein weiterer Obelisk und 1948 wurde das Denkmal-Ensemble durch ein grosses steinernes Mausoleum, ein sogenanntes «Ohel» komplettiert, das den Ghetto-Widerstandskämpfern und den jüdischen Partisanen der Einheit «Forojs» gewidmet war, die während des Zweiten Weltkriegs in der Region 
Podlachien
eng. Podlachia, lat. Podlachia, ukr. Підлісся, ukr. Pidlissja, bel. Падляшша, bel. Padljašša, lit. Palenkė, pol. Podlasie, deu. Podlasien

Podlachien befindet sich im Osten Polens und wird von den Flüssen Bug und Memel begrenzt. Das Gebiet wurde 1569 durch Eroberung erst in das polnische Königreich und später in die polnisch-litauische Union eingegliedert.

 kämpften.9 Ab 1945 gedachten die Białystoker Jüdinnen:Juden dem Jahrestag des Ghettoaufstands regelmässig auf dem Żabia-Friedhof im Beisein von Vertreter:innen städtischer, militärischer und ziviler Organisationen.10
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Doch die jüdische Gemeinde in Białystok verlor in den folgenden Jahren zunehmend an gesellschaftlichem Einfluss und politischem Gewicht. Während direkt nach dem Krieg noch rund 2.000 Überlebende in der Stadt geblieben waren, die ein Gemeindewesen mit Schule und Bibliothek aufbauten und sich mit den sozialistischen Machthabern zu arrangieren versuchten, wurde die Situation für die Jüdinnen:Juden in Polen zusehends unangenehm: Viele verließen das Land aus Angst nach dem Pogrom von Kielce
Pogrom von Kielce
In der südostpolnischen Stadt fielen am 4. Juli 1946 über 40 polnische Juden einer brutalen Hetzjagd zum Opfer, darunter auch Überlebende der Shoah. Der Auslöser war die Verbreitung eines Gerüchts über die angebliche Entführung eines christlichen Jungen durch Juden.
 1946 und aus Frustration über die zunehmende Stalinisierung
Stalinisierung
Sammelbegriff für die politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen, die im Zuge der Unterwerfung der ostmitteleuropäischen Staaten unter die Herrschaft Josef Stalins und der UdSSR stattfanden. Ein Teil dieser Kampagnen bestand in einer stärkeren Zentralisierung und Kontrolle des Vereins- und Gemeindewesens durch die sozialistischen Machthaber.
 des öffentlichen Lebens. Im Zuge dieses kontinuierlichen Exodus schrumpfte die Gemeinde bis zum Anfang der 1960er-Jahre auf nur noch rund 230 Jüdinnen:Juden.11
Überbauung und Auflösung
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1964 wurde der Żabia-Friedhof nach einem Entscheid des Ministeriums für Kommunalwirtschaft geschlossen, der Boden an die Stadt überschrieben.12 Dieses Urteil markierte das Ende eines langwierigen Machtkampfs zwischen der jüdischen Gemeinde und den städtischen Behörden. Bereits 1953 hatte es Pläne des Amtes für Haus- und Siedlungsbau gegeben, den Gottesacker im Zuge einer Überbauung des Gebiets abreißen zu lassen.13 Vehemente Proteste der Białystoker Jüdinnen:Juden und eine Intervention des Jüdischen Historischen Instituts brachten die Behörde zum Einlenken. In den Jahren darauf verwahrloste die Nekropole jedoch zusehends, da der schrumpfenden Gemeinde die finanziellen Ressourcen fehlten. Endgültig aufgelöst wurde die jüdische Gemeinde schließlich infolge der  antisemitischen Kampagne von 1968
Die antisemitische Kampagne von 1968
auch:
März-Unruhen 1968
Als Reaktion auf landesweite Studierendendemonstrationen initiierte die Führung der Polnischen Volksrepublik unter Władysław Gomułka eine orchestrierte «anti-zionistische» Medienkampagne, die eine «zionistische Fünfte Kolonne» für die Unruhen in Polen verantwortlich machte. Damit einher ging eine Überwachung zahlreicher Juden durch den Geheimdienst und eine «Säuberungskampagne», bei der prominente jüdische Parteimitglieder zum Rücktritt gezwungen wurden.
, als der Geheimdienst mehrere jüdische Białystoker beschattete und Ärzte und Würdenträger als ‚Zionisten‘ ‚entlarvt‘ und ihrer Ämter enthoben wurden. Diese Schikanen führten dazu, dass ein Großteil der noch verbleibenden Jüdinnen:Juden das Land verließ.14
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1971 fiel schließlich der Entscheid, den Friedhof abzureißen – erneuten Protestbriefen von Szymon Datner und Einsprachen der verbleibenden Białystoker Jüdinnen:Juden zum Trotz. Die Mazevot, Denkmäler und die Friedhofsmauer mussten dem Bau einer Siedlung mit dem prosaischen Namen „Norden II“ („Północ II“) weichen. Die sterblichen Überreste der Opfer des Ghettos und der jüdischen Nachkriegs-Białystoker wurden exhumiert und in einem einzigen Massengrab beerdigt. Die Architektin Wanda Pietrasz gestaltete einen Teil der ehemaligen Nekropole zu einer Grünfläche um. Ein kleines Fragment der Mauer blieb erhalten, daneben wurde über dem Massengrab das bis heute bestehende „Denkmal für die Opfer des Ghettos“ („Pomnik ofiar getta“) erbaut.15 Ein kleines Fragment der Mauer blieb erhalten, daneben wurde über dem Massengrab das bis heute bestehende „Denkmal für die Opfer des Ghettos“ („Pomnik ofiar getta“) erbaut. 16  Laut Yechiel Weizman war die Überbauung und Zweckentfremdung jüdischer Friedhöfe ein weit verbreitetes Phänomen in der Polnischen Volksrepublik der 1960er- und 1970er-Jahre: Die zunehmende Abwanderung jüdischer Überlebender führte zu einer sukzessiven Desakralisierung ihrer Nekropolen, die sich vielerorts physisch durch Vandalismus und Zerstörung, im öffentlichen Bewusstsein aber auch durch Vergessen und Ignoranz manifestierte.17
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Doch auch nach der Überbauung diente der ehemalige Friedhof als Bühne für jährliche Gedenkzeremonien zu Ehren des Ghettoaufstands, die vom Jüdischen Historischen Institut in Zusammenarbeit mit der Stadtverwaltung organisiert wurden. Um die Instandhaltung der neuen Gedenkstätte kümmerte sich fortan die Belegschaft einer lokalen Vlies-Fabrik, da sich die jüdische Gemeinde infolge der Ereignisse von 1968 endgültig aufgelöst hatte.
Die Wiederentdeckung
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Nach 1989 orientierte sich die Dritte Polnische Republik wirtschaftlich, aber auch ideell zunehmend an der EU und den Vereinigten Staaten. Tourist:innen aus Israel, den USA oder Kanada strömten zu Tausenden ins Land, um die Orte der Shoa, aber auch die architektonischen Zeugnisse jüdischen Lebens zu besuchen. Laut dem Historiker und Zeitzeugen Tomasz Wiśniewski übte die erste demokratisch gewählte Regierung unter Premierminister Tadeusz Mazowiecki auch in den Regionen Druck aus, sich stärker mit der marginalisierten jüdischen Geschichte auseinanderzusetzen.18 Dieses neue Interesse an der jüdischen Vergangenheit Białystoks motivierte Entscheidungsträger:innen, Wissenschaft-ler:innen und Aktivist:innen zur Montage neuer Gedenktafeln und Denkmäler, lenkte den Fokus aber auch auf den ehemaligen Żabia-Friedhof – und die Frage, wo eigentlich die Denkmäler aus der Nachkriegszeit geblieben waren.
Der Verbleib des Mausoleums und des Denkmals aus dem Jahr 1945 ist bis heute unklar, doch der 1947 erbaute Obelisk wurde im Jahr 1993 wiederentdeckt. Wo genau, ist umstritten: Laut der Historikerin Joanna Sadowska wurde er auf dem Terrain eines nahegelegenen Kindergartens vergraben, Tomasz Wiśniewski zufolge überdauerte er die Jahre in einem Lagerhaus einer Militär-Baracke.19 Anlässlich des 50. Jahrestags des Ghettoaufstands wurde der wiederentdeckte Obelisk auf Initiative des Ghetto-Überlebenden Szymon Bartnowski restauriert, in der Mitte des Platzes montiert und am 16. August 1993 von Stadtpräsident Lech Rutkowski und der israelischen Botschafterin feierlich eingeweiht.20 Seither haben die Białystoker Stadtregierungen weitere symbolische Schritte unternommen, um dem jüdischen Erbe dieses Ortes und der Stadt im Allgemeinen zu gedenken. Unter dem parteilosen Langzeit-Stadtpräsidenten Tadeusz Truskolaski, der 2006 sein Amt antrat und es bis heute innehat, wurde der namenlose Park über dem Ghettofriedhof 2008 zu Ehren des Aufstands-Kommandanten in „Mordechaj-Tenenbaum-Platz“ umbenannt21 und 2010 eine Städtepartnerschaft mit der israelischen Gemeinde Yehud geschlossen, wo sich nach dem Zweiten Weltkrieg besonders viele Białystoker Jüdinnen:Juden angesiedelt hatten.22 Bis heute versammeln sich lokale Würdenträger:innen sowie Verteter:innen jüdischer Vereine und der Warschauer Gemeinde jedes Jahr am 16. August auf dem Mordechaj-Tenenbaum-Platz, um Blumenkränze für die Opfer des Ghettos niederzulegen und zu beten. Seit Truskolaski im Amt ist, nehmen auch regelmäßig Vertreter:innen der deutschen und der israelischen Botschaft an den Feierlichkeiten teil und geben der Veranstaltung mit ihren Reden eine internationale Dimension.
Die Ambivalenz der Erinnerung
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Dennoch äußern sich Stimmen aus der Białystoker Wissenschaft und Zivilgesellschaft kritisch zum offiziellen Umgang mit der jüdischen Stadtgeschichte. Die Soziologie-Professorin Katarzyna Sztop-Rutkowska beklagt etwa, dass die Denkmäler und Gedächtnisorte, die an das jüdische Białystok erinnern, nicht an prominenter Lage, sondern nur in Wohnquartieren und unbelebten Hinterhöfen zu finden sind.23 Das führe dazu, dass viele Leute heutzutage nicht einmal mehr wissen, dass Białystok einst eine jüdische Bevölkerung hatte – und dies ausgerechnet in einer Stadt, wo Jüdinnen:Juden phasenweise sogar in der Mehrheit waren und die Industrialisierung sowie das kulturelle Leben maßgeblich geprägt hatten. 
Noch wichtiger für das historische Bewusstsein als die Denkmäler wäre laut Sztop-Rutkowska zudem ein jüdisches Museum – oder ein „gutes stadtgeschichtliches Museum mit einer jüdischen Sektion“.24 Doch in den vergangenen Jahren scheiterten diverse Initiativen, ein solches aufzubauen. Die Stadtregierung legte dabei eine Haltung an den Tag, die sich zwar als grundsätzlich wohlwollend, im konkreten Fall aber als passiv und extrem zögerlich beschreiben lässt. Sie zeigte sich stark darauf bedacht, keine finanziellen Verpflichtungen einzugehen. Laut dem Historiker und Aktivisten Tomasz Wiśniewski, der sich seit den 1980er-Jahren für die jüdische Erinnerung in Białystok engagiert und bereits mehrere Museumsprojekte ad acta legen musste, sind politische Überlegungen ausschlaggebend für die zögerliche Haltung der Exekutive: Seit der Jedwabne-Debatte
Jedwabne-Debatte
Die Publikation des Buches «Nachbarn» («Sąsiedzi») des polnisch-amerikanischen Historikers Jan Tomasz Gross stimulierte im Jahr 2000 eine breite wissenschaftliche und gesellschaftliche Debatte über die Mitschuld der nicht-jüdischen Polen an der Shoa und die Kollaboration mit den deutschen Besatzern.
 um die Jahrtausendwende sei das Gedenken an die jüdische Geschichte Polens ein kontroverses Thema, bei dem es politisch wenig zu gewinnen, aber viel zu verlieren gäbe.25   Wer darauf erpicht sei, Wahlen zu gewinnen, fokussiere sich daher besser auf weniger kontroverse, dafür umso vagere Schlagworte wie ‚Multikulturalität‘ oder ‚Toleranz‘.
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Diese ambivalente Haltung gegenüber der jüdischen Geschichte zeigt sich auch an der Organisation des jährlichen Gedenktags für den Ghettoaufstand, den ich im Jahr 2021 vor Ort beobachtete: Zwar versammeln sich auf dem Mordechaj-Tenebaum-Platz regelmäßig bedeutende Vertreter:innen aus dem politischen und religiösen Leben. So war 2022 etwa der international bekannte Auschwitz-Überlebende und Vorsitzende des Jüdischen Historischen Instituts Marian Turski zugegen. Die Gedenkzeremonie wurde jedoch durch viel Sicherheitspersonal und die großräumige Montage von Absperrungen vom Rest des Parks abgeschnitten. Von außerhalb dieses ‚VIP-Sektors‘ waren die Reden und Gebete kaum hörbar. Zaungäste versammeln sich daher jeweils nur wenige. Die Veranstaltung wirkt exklusiv. Sobald der letzte Kranz niedergelegt worden ist, eilen die Vertreter aus Lokal- und Regionalpolitik stante pede zurück in ihre klimatisierten Dienstwagen. Dieses starre Prozedere ist in gewisser Weise symptomatisch für die Erinnerung an das jüdische Polen, die vielerorts ein Elitenphänomen ist und nur noch in ritualisierten Prozeduren vollzogen wird, während ambitioniertere Projekte aus der Zivilgesellschaft nur wenig politischen Rückhalt genießen.

Siehe auch