Die Interviews über die ersten Monate des Krieges in Charkiw führte die NGO „Young Kharkiv“. Wer aber ist „Young Kharkiv“ und welche Ziele verfolgt die NGO mit ihrem Oral-History-Projekt?
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Wir sind eine Gruppe von Historiker:innen aus Charkiw. Unser Ziel ist es, das Gedächtnis der Stadt zu erhalten und sichtbar zu machen. Seit den Zerstörungen durch die russische Invasion machen wir Interviews mit Menschen aus der Stadt. Einige von uns mussten die Stadt verlassen, andere sind hiergeblieben.
Seit dem 24. Februar 2022 mussten wir Zeug:innen davon werden, wie der Einmarsch der russischen Truppen in die gesamte Ukraine unser Leben und unseren Alltag völlig über den Haufen geworfen hat. Wir müssen täglich erleben, dass Zivilist:innen und Soldat:innen getötet werden – manchmal sind das Menschen aus unseren Familien und unserem nächsten Umfeld. Wir müssen täglich erleben, dass Wohnhäuser, Infrastruktur und kulturelles Erbe in unserem Land und aus unserer nächsten Umgebung zerstört werden.
Der Krieg stellt die Menschen des ganzen Landes vor eine völlig neue Situation, egal ob sie in Großstädten, Kleinstädten oder Dörfern wohnen. Der Krieg hat alles um uns verändert: Er hat all unsere Werte fundamental in Frage gestellt, er erschüttert unsere Lebenswelt, er hat unsere Beziehung zu Raum, Ort und Zeit verändert. Wir von Young Kharkiv haben es uns zur Aufgabe gemacht, diese Veränderungen zu dokumentieren. Seit dem ersten Tag des Angriffskriegs steht Charkiw unter ständigem Beschuss. Wir, die Arbeitsgruppe, Iryna Skyrda, Anton Skyrda, Yevhen Mikhnow, Yevhenii Telukha und Svitlana Telukha, arbeiten daran, Zeugnisse von Charkiwer Bürger:innen und Erinnerungen an Orte, die sie mit ihrer Stadt verbinden, aufzubewahren. Dafür nehmen wir Zeugnisse der Stadtbewohner:innen über ihr Leben und ihren Alltag sowie über wichtige Orte im städtischen Raum als Videointerviews auf und archivieren diese. Wir wollen Erinnerungsorte der Charkiwer:innen im Gedächtnis bewahren und zugleich historische Informationen über die Orte verfügbar machen. 
Auf dem Portal Copernico stellen wir 11 dieser Interviews vor, die im ersten halben Jahr des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine aufgenommen wurden. Mittlerweile haben wir über 100 Videos aufgezeichnet, die wir in unserem persönlichen Archiv aufbewahren. Wir sind dabei, eine eigene Website zu erarbeiten, auf der wir diese gesammelt präsentieren werden.
Für die Dokumentation nutzen wir strukturierte Videointerviews. Wir fragen die Charkiwer:innen danach, wie sie Erinnerungsorte vor dem Krieg erlebten, wie sich diese seit dem 24. Februar 2022 veränderten und wie und ob es möglich ist, heute an diese Orte zu gelangen. Weiterhin fragen wir danach, wie die Interviewpartner:innen den Anfang des Krieges erlebten und wie sie Notfallgepäck vorbereiteten. Wir fragen nach der Flucht, nach Überlebensstrategien unter den Bedingungen des Krieges und nach ihren Plänen für einen möglichen Neuanfang nach dem erhofften Sieg der Ukraine. Weiterhin halten wir es für wichtig, Geschichten festzuhalten, die den Interviewten im Krieg Kraft und Hoffnung gegeben haben, dazu gehören auch Erzählungen von Geburtstagen, Festen und Feiertagen und von ihren Wünschen und Träumen.
Das Projekt soll einen Beitrag zur Sozialgeschichte und Anthropologie leisten. Besonders beschäftigt es sich mit Alltagsgeschichte im Krieg, mit der Erfahrung des Überlebens in Extremsituationen und mit erzwungener Migration.
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Deutsche Übersetzung: Dorothee Riese

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