Was bedeutet es, in Zeiten des Krieges Interviews zu führen? Yevhenii Telukha schildert die schwierigen Bedingungen, unter denen die Interviews entstanden sind.
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Unsere Interviews sind unter Bedingungen des Krieges entstanden. Charkiw ist 40 km von der Grenze zu Russland entfernt. Seit dem 24. Februar 2022 ist die Stadt ständig unter Beschuss, und das leider bis zum heutigen Tag. Wir Interviewer:innen und unsere Gesprächsparner:innen sind immer und überall von dieser Gefahr umgeben. Im Laufe der Zeit haben wir uns angepasst – durch Beobachtung, Kreativität und Erfindungsreichtum konnten wir den Gefahren trotzen und für den Moment des Interviews eine relative Sicherheit herstellen.
Wir begannen bereits an den ersten Tagen des Krieges Interviews aufzunehmen. Damals wurde die Stadt ständig beschossen. Wir machten also unsere ersten Interviews in Kellern und in privaten Wohnungen nach der sogenannten „Zwei-Wände-Regel“. Das bedeutet, dass man versucht, sich in einem Teil der Wohnung aufzuhalten, der keine Fenster oder verglasten Türen hat. Bereits an den ersten Tagen des Krieges interviewten wir uns untereinander – es half uns, die Situation zu verarbeiten und zu objektiveren.
Später, als der Beschuss nachgelassen hatte und es wärmer geworden war, haben wir angefangen, draußen zu interviewen – aus dieser Phase stammen die hier vorgestellten Interviews. Dabei mussten wir aber darauf achten, keine völlig unbebauten Flächen für die Interviews zu wählen. Wir trafen uns in den Höfen zwischen den Wohnblocks, so nah wie möglich an einem Luftschutzkeller. Einige Interviews konnten wir nicht am Stück führen – wir mussten sie abbrechen und an einem anderen Tag fortsetzen, an dem es wieder möglich war, die Luftschutzkeller zu verlassen. Natürlich hinterlässt das Spuren in der Qualität und Vollständigkeit der Interviews und des Videomaterials. Nicht zuletzt bedeutet es, dass sich der Gefühlszustand der Interviewer:innen und Interviewpartner:innen während der Interviews veränderte.
Es kommt eine weitere Besonderheit hinzu: Viele der Respondent:innen waren zunächst äußerst argwöhnisch gegenüber den Mitgliedern der Projektgruppe. Sie wollten erst einmal genau wissen, wer wir sind, und äußerten ihr Misstrauen. Man muss bedenken, dass der in Charkiw gebliebene Teil der Gruppe vorwiegend aus Männern bestand. Dadurch dass in der Stadt häufig vor Plünderungen gewarnt wurde, hatten viele Menschen Vorbehalte gerade gegenüber Männern. Daher legten wir den Interviewpartner:innen stets eine offizielle Bescheinigung mit Passfoto und Unterschrift vor, die attestierte, dass wir Forscher:innen sind. Aber trotz dieser Bescheinigungen wollten fast alle Interviewpartner:innen sich nur draußen bzw. an öffentlichen Orten mit uns treffen. Eine Einladung nach Hause war eine große Seltenheit. Dadurch ergaben sich neue Schwierigkeiten beim Aufzeichnen der Interviews: Die Suche nach einem passenden Ort gestaltete sich äußerst schwierig. Neben den bereits erwähnten Sicherheitskriterien musste der Ort auch den aufgrund des Krieges verschärften Regeln zum Filmen an öffentlichen Orten genügen. Zum Beispiel ist es aufgrund des Krieges nicht erlaubt, Fotos und Videoaufnahmen von zerstörten Gebäuden aufzunehmen – und davon gibt es in Charkiw leider mittlerweile sehr viele. Auch vor Kontrollposten, militärischen Posten oder Polizeistationen zu filmen ist verboten. Das Filmen in der Metro oder in Luftschutzkellern ist ohne Sondererlaubnis ebenfalls nicht möglich. Daher war es häufig bereits schwierig, einen passenden Ort für die Aufzeichnung des Interviews zu finden.
Dazu kamen weitere Schwierigkeiten: Nicht nur mussten wir, wie das bei Filmen unter freiem Himmel üblich ist, auf gutes Wetter achten. Häufig gab es plötzlich störende Geräusche oder Passant:innen liefen durch die Kamera. Es kam auch vor, dass Personen in alkoholisiertem Zustand sich vor die Kamera drängten und ihr „Interesse“ am Projekt ausdrücken wollten… Natürlich störte das sowohl Interviewer:innen als auch die Befragten.
Der Zeitpunkt musste mit äußerstem Bedacht gewählt werden: Seit Beginn des Krieges wurden in Charkiw Ausgangssperren verhängt, deren Länge von der Schwere der Angriffe und Kämpfe abhing. Am Anfang des Krieges begann die Ausgangssperre beispielsweise bereits um 16 Uhr. Während des Interviews mussten wir also ebenfalls darauf achten, die Zeit im Blick zu behalten, damit alle Teilnehmer:innen des Interviews rechtzeitig den Heimweg antreten konnten, um vor der Sperrstunde zu Hause anzukommen.

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