Treten Sie ein in ein kosmisches Universum, das aus der Symbiose von Kunst und Musik entsteht. Der litauische Komponist und bildende Künstler M. K. Čiurlionis nutzte diese bewusste Verquickung von Kunst und Musik, um an der Wende zum 20. Jahrhundert eine litauisch-nationale Kulturrevolution zu begründen. Damit eröffnete er einen Erfahrungsraum, der über die Medien der bildenden Kunst und der Musik hinausgeht.
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Haben Sie schon einmal ein Kunstwerk betrachtet, z. B. ein Gemälde, das eine riesige Welle im Meer zeigt, die sich so hoch auftürmt, dass sie ein kleines, unbedeutend aussehendes Schiff zum Kentern bringt, und sich gleichzeitig vorgestellt, darin eine ganze Symphonie von Musik erhören zu können? Oder haben Sie schon einmal die Augen geschlossen, während Sie klangvolle Musik hörten, und sich eine riesige Welle im Meer vorgestellt, die ein kleines, unbedeutendes Schiff zum Kentern bringen könnte? Um die Wende zum 20. Jahrhundert experimentierten, besonders in Europa, bildende Künstler:innen und Musiker:innen mit dieser Symbiose oder auch Korrelation zwischen verschiedenen Kunstmedien: Synästhesie. Synästhesie ist die Zuordnung von Farben zu Klängen und umgekehrt.1 M.K. Čiurlionis war im Litauen an der Wende zum 20. Jahrhundert ein entscheidender Akteur, der diese Kunstform in Europa vorantrieb.
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Kunst, Musik und Aktivismus
 
Čiurlionis gilt als einer der wichtigsten Akteur:innen der nationalkulturellen Erneuerungsbewegung Litauens. In seinen bildnerischen Werken erschuf er litauische Landschaften, während er gleichzeitig in Musikkompositionen litauische Volkslieder in Musikstücke eingehen ließ. Seine bildnerischen Werke und seine Musik führten jene Nationalkulturbewegung Litauens an, die um die Jahrhundertwende im Entstehen war.
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Passion und Aktivismus
Die leidenschaftliche Beziehung zu seiner Frau Sofijai bereitete den Boden für das Schaffen eines künstlerischen Duos, das der litauischen Nationalkultur zu einer Zeit Vorschub leistete, als die Fortschritte in der Entwicklung von Institutionen zur Förderung von nationaler Kunst-, Literatur- und Musikbewegungen in Litauen noch begrenzt waren. Das einzige Hindernis, das sich Čiurlionis‘ Kunst, Musik und schließlich seinem Aktivismus in den Weg stellte, war der Umstand, dass er zu seinen Lebzeiten verkannt blieb und dadurch gezwungen war finanziell prekär zu leben. Tragischerweise starb er bereits in jungem Alter an Erschöpfung. Dieser Artikel stellt daher eine Kurzbiografie des Künstlers M.K. Čiurlionis dar, in der ein Schlaglicht auf die wichtigsten Aspekte seines Lebens geworfen wird: die Synästhesie in seiner Musik und Kunst, Čiurlionis‘ zentrale Rolle in der litauischen Nationalkulturbewegung und die besondere Beziehung zu seiner Frau Sofijai.
Synästhesie in Čiurlionis‘ Musik und Kunst
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Avantgardistische Kunst und Musik
Čiurlionis‘ synästhetischer Ansatz in der musikalischen und bildnerischen Komposition spielte eine führende Rolle für die Kunst an der Wende zum 20. Jahrhundert. Buccio beschreibt, wie Čiurlionis in den Titeln seiner Gemäldezyklen musikalische Termini verwendete, während er für die Titel seiner musikalischen Kompositionen fantasievolle und lebendige Beschreibungen assoziierte. Beides verdeutlicht die Absicht, eine konzeptionelle Bedeutung jenseits der Klangempfindung in seiner Musik und umgekehrt in seinen Kunstwerken zu evozieren.2 Ein klares Beispiel für seinen synästhetischen Ansatz, Kunst und Musik miteinander ins Gespräch zu bringen, ist der von Čiurlionis geschaffene Gemäldezyklus mit dem Titel „Sonate des Meeres“ und die symphonische Dichtung „Das Meer“ in seiner Musikkomposition.
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Die Aufführung der Synästhesie
Es ist augenfällig, dass für Čiurlionis bildende Kunst und Musik dazu bestimmt waren, im Modus der Synästhesie einem Publikum im Zweiklang präsentiert zu werden. Im Jahr 1909 führte Čiurlionis in St. Petersburg seine symphonische Dichtung „Das Meer“ zusammen mit der „Sonate des Meeres“, einem Zyklus von Landschaftsbildern, auf. Dies wird als die modernste Darstellung des Genres der Synästhesie beschrieben, die Kunst in die Sphäre der Musik einbezieht und vice versa.3 In St. Petersburg, das zu dieser Zeit das Zentrum der europäischen Kunst und des Intellektualismus war, tat sich Čiurlionis eindeutig als ein Pionier dieser neuen Kunstform hervor.
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Die Rolle der Synästhesie für den kulturellen Fortschritt
 
Čiurlionis betrachtete bildende Kunst und Musik als natürliche Spiegelung der physischen Landschaft einer Gesellschaft und ihrer kulturellen Bedingungen. In seinem Artikel „Über Musik“ stellt Čiurlionis einen Zusammenhang zwischen der Rolle der Musik und der kulturellen Entwicklung her. „Die Völker, die in den Bergen leben, singen anders als die Völker, die an den Ufern des Juras leben; die Völker, die in den dunklen Wäldern leben, singen anders als die, die in den Wiesen der Ebenen unterwegs sind. In den reichen und fruchtbaren Ländern singt man anders, und wieder anders, wo man hart für das Brot graben muss und wo der Hunger weit verbreitet ist“4. Vielleicht dient die Korrelation zwischen Kunst und Musik als die Dualität des synästhetischen Ansatzes. Die Kunst repräsentiert die physische Landschaft einer Gesellschaft, während die Musik die kulturellen Aspekte einer Gesellschaft darstellt. Diese Korrelation bringt die Rolle der Synästhesie für der Entwicklung einer nationalen Kulturidentität einer Gesellschaft zum Ausdruck, die ihre Kultur noch nicht zu einer nationalisierten Bewegung entwickelt hat.
Litauische Nationalkulturbewegung
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Volkslieder als Grundlage
 
Im Artikel „Über Musik“ erläutert Čiurlionis die Gründe, wieso sich die litauische Musik nicht zu einem kulturellen Phänomen entwickeln konnte. „Die litauische Musik, das können wir mit Zuversicht sagen, muss zu ihrem Recht kommen, aber heute ist sie noch nicht so weit... Die litauische Musik wird auch künftig im Volkslied zu finden sein“5. Die Verbindung von Volksliedern mit der litauischen Kultur ist wesentlich für das Verständnis der Förderung litauischer Belange, denn Volkslieder sind die Grundlage der litauischen Kultur.
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Adaption von Volksliedern in eine moderne Komposition
 
Čiurlionis‘ Beitrag zur Nationalkulturbewegung Litauens bestand in erster Linie in der Übertragung litauischer Volkslieder in moderne, selbst geschaffene Musikkompositionen. Čiurlionis adaptierte mehr als sechzig litauische Volkslieder in Chorkompositionen und etwa vierzig Kompositionen für Klavier, womit er die Volksmusik erfolgreich mit der modernen Kompositionsmusik verquickte.6 Aus der Verbindung des künstlerischen Schaffens mit tief empfundenen litauischen Kontexten entspringt die kulturelle Entwicklung Litauens, denn sie verbindet die litauische Gesellschaft mit dem, was eigene litauische Kunst und Musik sein können. Diese Verbindung dient sowohl der künftigen Erhaltung litauischer Kultur als auch um litauische Interessen zu stärken.
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Soziale Gerechtigkeit für Litauen
Aus Čiurlionis‘ Erfahrungen, kulturell als Pole identifiziert und in Warschau und Leipzig als Litauer diskriminiert worden zu sein, entwickelte er einen Sinn für soziale Gerechtigkeit und für die Rechte der Litauer:innen. Er gründete einen Chor für die Warschauer Litauische Gegenseitige Hilfsgesellschaft und 1907 wurde er Vizepräsident der Litauischen Kunstgesellschaft.7 Čiurlionis war aktiv an der Gründung litauischer Interessengruppen beteiligt, um die Nationalkultur und die Interessen Litauens zu befördern und zu stärken. Čiurlionis war der erste, der diese litauischen Kunstgruppen ins Leben rief, und ist damit einer der wichtigsten Akteur:innen, die die Kationalkulturbewegung in Litauen vorantrieben.
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Hingabe an die litauische Nationalkulturbewegung
Seine Frau Sofijai beschreibt Čiurlionis‘ Temperament hinsichtlich seiner Rolle bei der Entstehung und Entwicklung der litauischen Nationalkultur wie folgt. „Nach der ersten Kunstausstellung wurde ihm plötzlich klar, dass sein Platz in Litauen, in Vilnius ist, aber es drängte ihn, als wäre es ein kategorischer Imperativ, hier auf dem Gebiet der Kunst zu arbeiten, zu wecken, zu erbauen, den Menschen zu zeigen, was sie selbst schaffen können. Die Gründung eines litauischen Chors in Vilnius scheint sein erstes Ziel zu sein“8. Bei der Produktion von bildnerischen und musikalischen Werken zum Zwecke, eine kulturelle Revolution in einem litauischen nationalen Kontext auszulösen, maß Čiurlionis stets dem Ziel, seine kreative Freiheit zu verwirklichen, einen höheren Wert zu als die Absicherung einer bequemeren und finanziell auskömmlicheren Position für sich selbst zu verfolgen. Anders wäre er nicht in der Lage gewesen, einen Chor in Vilnius zu gründen und seine tief empfundenen Ideen und Konzepte für Litauen auszudrücken.
Die Beziehung zu Sofijai: Leidenschaft, Romantik und Tragödie
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Das erste Treffen
Zum ersten Mal begegneten sich Čiurlionis und Sofijai in einem Vilniuser Musiksaal, in den rund 70 litauische Intellektuelle geladen waren – ein Novum in Vilnius zu dieser Zeit.9 In der Tat war es auch Sofijai, die als Mitglied der litauischen Zeitschrift Viltis und aktives Mitglied der litauischen Nationalkulturbewegung dafür sorgte, dass Čiurlionis eine Einladung erhielt, im Rahmen der Veranstaltung eine eigene Musikkomposition aufzuführen.10 Nachdem Sofijai und Čiurlionis einander vorgestellt worden waren, erfuhr er, dass sie des Litauischen mächtig war. Čiurlionis bat sie daraufhin, ihm Litauisch beizubringen. In ihren Memoiren beschreibt Sofijai diese Episode wie folg: „Er setzte sich dann neben mich und sagte: ‚[...] Ich habe beschlossen, dass du mir Litauisch beibringst‘“11. Sofijai reagierte außerordentlich erfreut. In ihren Memoiren schreibt sie: „Es gibt solche Worte, solche Sätze im Leben, die nichts in der Erinnerung zu verdunkeln oder zu vervollständigen vermag; nicht nur die Worte bleiben lebendig, sondern auch das Timbre der Stimme und der Blick in den Augen – das leichte Lächeln auf den Lippen"12. Dies ist ein entscheidender Moment im Leben eines jeden von ihnen, da sie sich auf einer Ebene begegnen, die sie sofort fürs Leben verbindet. Offensichtlich fühlten sich Sofiai und Čiurlionis nicht zuletzt aufgrund ihrer gemeinsamen Leidenschaft für die Beförderung der litauischen Kultur und aufgrund ihrer Freude an der Kunst und der Musik zueinander hingezogen.
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Die verbindende Kraft der Romantik
Andriusyte-Zukiene beschreibt treffend das leidenschaftliche Band, das sich zwischen Sofiaj und Čiurlionis entwickelte und das beide in den Orbit des jeweils anderen zog. „Romantische Fantasie bringt beide in einen starken Strom, vor allem, wenn sie ihre Gedanken über das Streben nach der neuen Kunst, über die Flüge eines Geistes in einem grenzenlosen Raum, an den Rändern der Fantasie und Inspiration teilen“13. Der kreative Prozess der Kunst, der Musik und des literarischen Journalismus, in dem Sofijai und Čiurlionis zusehends aufgingen, diente dazu, ihren Traum von einer litauischen Gesellschaft mit grenzenlosen Möglichkeiten und Chancen voranzutreiben, der bisher von den politischen Kräften unterdrückt worden waren.
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Die Leidenschaft zwischen ihnen
Sofijais Beschreibung ihrer ersten Verabredung illustriert deutlich die tiefe leidenschaftliche Beziehung des Paares. „Ich setzte mich auf die Couch, schloss die Augen, Konstantin improvisierte... Die Musik hörte auf – die Abenddämmerung füllte den Raum – in dieser Dämmerung, so scheint es mir, wirbelten die Töne der Musik noch. Ich erhob mich – das unausgesprochene Glück und die unendliche Traurigkeit auf Erden sind für mich nur ein Geruch. Ich erhob mich von meinem Platz und lief hinter ihm her, um ihn mit zurückgelegtem Kopf zu streicheln, und beugte mich herunter, um seine stolze Stirn leicht zu küssen. Er drückte meine Hände an seine Lippen – ohne ein Wort. Eine Grenze – die keiner von uns beiden überschreiten wollte. Nach ein paar Stunden sagte ich: ‚Ich muss gehen.‘ – ‚Ich werde dich begleiten.‘ Und wir gingen ohne ein Wort“14. Sofijai assoziiert sogar den Aspekt der Synästhesie mit ihrer ersten Begegnung. Die Kraft der Synästhesie von Kunst und Musik führt den Menschen zu einer tiefen emotionalen Bindung. Die Aktivierung von mehr als einem Sinn in der Kunst erzeugt ein Gefühl der Freiheit, das einen tiefgreifenden Einfluss auf das Publikum hat.
Die Tragik von Čiurlionis‘ vorzeitigem Tod
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Erschöpfung durch die Hingabe an die Komposition
Aufgrund einer finanziellen Notlage reiste Čiurlionis im Jahr 1909 ohne Sofijai allein nach St. Petersburg. Čiurlionis finanzielle Lage hatte oft schwerwiegende Auswirkungen auf seine Beziehung zu Sofija und wirkte sich negativ auf seine künstlerische und musikalische Arbeit aus. Ein enger Freund in St. Petersburg berichtete: „Nachdem er täglich 24, manchmal 25 Stunden gearbeitet hatte, sagte Čiurlionis oft, er habe so viele neue Bilder, dass er Angst habe, er könne sie nicht alle malen. Offenbar hatte er das Gefühl, dass der Tod unmittelbar bevorstand“15. Von der Person getrennt zu sein, mit der er emotional am engsten verbunden war, hatte erhebliche Auswirkungen auf Čiurlionis‘ sich stetig verschlechternde psychische Gesundheit. Hätte Sofija Čiurlionis nach St. Petersburg begleitet, wären Čiurlionis Kompositionen dann fruchtbarer gewesen? Hätte Sofijais Anwesenheit Čiurlionis Depressionen und Ängste gemildert? Hätte Sofijai ausgereicht, um Čiurlionis davon abzuhalten, bis zur Erschöpfung zu arbeiten? Ihre tiefe emotionale Verbundenheit legt nahe, dass Sofijais Anwesenheit Čiurlionis‘ künstlerisches Schaffen dramatisch verbessert hätte und für Čiurlionis in hohem Maße therapeutisch gewesen wäre.
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Als Čiurlionis vor Erschöpfung zusammenbrach, wurde er in ein Sanatorium in der Nähe von Warschau gebracht, um in Sofijais Nähe sein zu können.16 Sofijai beschreibt seinen letzten Augenblick: „Der Priester kam, fragte mich nach seinem Leben und trat an ihn heran, um ihm die letzte Ölung zu erteilen. Zwei große Tränen kullerten aus M.K. Čiurlionis‘ Augen und kamen auf seinen Wangen zum Stehen. Der Priester spendete die letzte Salbung mit heiligen Ölen, und die hellen Strahlen der Frühlingssonne wischten sein [Čiurlionis‘] ausgedörrtes Gesicht ab und trockneten die letzten Tränen“17. Čiurlionis war es vergönnt, mit Sofijai an seiner Seite zu sterben. Da beide eine so große Leidenschaft füreinander und für die Sache der litauischen Nationalkultur hegten, muss es ihnen viel bedeutet haben, ihren letzten Akt gemeinsam zu erleben.
Fazit
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Der frühe Tod des M.K. Čiurlionis im Alter von bloß dreißig Jahren war nicht nur verheerend für seine Frau und seine Familie, sondern auch für die litauische Kunst- und Musikgesellschaft und insbesondere für die nationale Kulturbewegung Litauens. Nach dem Tod von Čiurlionis im Jahr 1911 würdigte die litauische Zeitschrift Apollon Čiurlionis als Hauptinitiator des jungen Litauens, der litauischen Bewegung für nationale Identität und kulturelle Verjüngung.18 Für die Litauer:innen ist Čiurlionis auch heute noch „ein großes Symbol des Nationalstolzes; überall auf der Welt, unabhängig von ihrem sozialen oder politischen System, verehren ihn die Litauer als Genie“19. Das kurze Leben von Čiurlionis, das der erschöpfenden Hingabe an seine Kunst und Musik bei der Schaffung eines litauischen kulturellen Universums gewidmet war, war immerhin erfolgreich darin, die litauische Sache voranzutreiben und eine neue Kunstform zu etablieren: die synästhetische Kunst.
Hören Sie Čiurlionis‘ „Das Meer“ mit dem Litauischen Nationalen Symphonieorchester unter der Leitung von Modestas Pitrenas
Čiurlionis‘ „Das Meer“ mit dem Litauischen Nationalen Symphonieorchester unter der Leitung von Modestas Pitrenas