Die Eigenproduktion und Verfeinerung von Lebensmitteln und deren Haltbarmachung in Gläsern und Konserven spielten in Südosteuropa und Bulgarien im 20. Jahrhundert wichtige und unterschiedlichste Rollen. Seit den 1990er-Jahren durchlebt diese Praxis einige Veränderungen und erfüllt heute vielfältige Funktionen – von einem Mittel der alltäglichen Ernährungssicherheit, zur Herstellung kleiner Aufmerksamkeiten für Freunde und Familie bis hin zu einem wichtigen Bestandteil des kirchlichen Festjahres und der landestypischen Küchenkultur. Und manchmal ist sie auch nur Ausdruck des Wunsches nach geschmacklicher Kontinuität.
Die Einmachkultur als südosteuropäische Praxis?
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Obwohl Glas ein alter Werkstoff ist (meist als Zusammensetzung aus Sand, Kalk und wahlweise Soda oder Pottasche) und gute Eigenschaften mit sich bringt (es verändert weder seine Form, noch den Geschmack seines Inhaltes, ist leicht zu reinigen und wiederverwendbar), fällt der überlieferte Beginn des Gebrauchs von Gläsern für Vorratszwecke und zur Lagerung von Nahrung erst in das 18. Jahrhundert.1 Im 19. Jahrhundert ließen neue Verschlussarten sowie die Vorgänge der Sterilisation Sterilisation Ein physikalisches oder chemisches Verfahren, bei dem verderbliche Gegenstände von Mikroorganismen befreit werden. Im medizinischen Kontext bezeichnet Sterilisation allerdings einen Eingriff mit dem Ziel der Unfruchtbarkeit. und des Erhitzens diese Konservierungstechnik zu einer wichtigen Methode werden, die Ernährungssicherheit der Bevölkerung sowie die Versorgung von Militärs und wissenschaftlichen Expeditionen zu gewährleisten.2   Nun ist weder das Einmachen von Lebensmitteln, noch die landwirtschaftliche Nutzung von kleinen Gärten für den Eigenbedarf, ein auf Südosteuropa und Bulgarien beschränktes Phänomen. Auch im deutschsprachigen Raum kennt man „Schrebergärten“, und vergleichbare „Lauben- und Kleingartenkolonien“; ähnlich in Polen die „Działka“ und im russisch-ukrainischem Raum die „Datscha“. Auch ist die Bewirtschaftung von Grünflächen mit Obst und Gemüse direkt vor, neben oder hinter dem Haus in Europa keine Seltenheit.
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Was Bulgarien und Südosteuropa von anderen (ost)europäischen Ländern unterscheidet, ist allerdings die große Rolle, die Einmachgläser spielen: ihre schiere Menge und Präsenz im Alltag, die Auswahl der verarbeiteten Lebensmittel, die soziale und symbolische Bedeutung der Glaskonserven sowie die Anzahl der Produkte, die die Einmachkultur begleiten oder in direkter Verbindung zu ihr stehen (wie Wein, Rakija, Wurst, Joghurt, Käse oder Honig). Während in Mitteleuropa überwiegend Obst und Früchte (zum Beispiel zu Marmeladen, Kompott, Saft oder Sirup) und im östlichen Europa darüber hinaus vor allem einige Gemüseprodukte (zum Beispiel zur Herstellung von Salz- oder Essiggurken) verarbeitet werden, kann in Südosteuropa und in Bulgarien alles im Glas landen: angefangen bei Tomaten und Paprika, über Weinblätter und Fleisch, bis hin zu reinem Fett. Eben alles, was der Garten, private Tauschzirkel und der Freundeskreis der Familie hergeben, am Markt erschwinglich ist oder für religiöse Feste benötigt wird.
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Ist das Einmachen von Lebensmitteln im Hochsommer, in Krisenzeiten oder bei einer gefühlten oder tatsächlichen Mangelwirtschaft verständlich, erklärt sich die anhaltende Praxis und Bandbreite des Einmachens im post-sowjetischen Bulgarien daraus nur bedingt. Angesichts voller Supermarktregale und der Tatsache, dass die eigene Herstellung sogar teurer sein kann, braucht es hier andere Erklärungsansätze. Wie kam die Produktion und Verwendung von Einmachprodukten im Bulgarien des 20. und 21. Jahrhunderts also zu ihrem Stellenwert? Um diese Frage zu beantworten, ist es notwendig, im Folgenden etwas tiefer in die Hintergründe und Geschichte dieser Praxis einzutauchen. Denn auch in Bulgarien ist das Einmachen von Gläsern zwar traditionsreich, anfänglich allerdings ebenfalls nur auf einige wenige Obst- und Gemüsesorten beschränkt. Ebenso muss man die sozialen Funktionen von eingemachten Gläsern im sozialistischen Bulgarien kennen. Und dann ist es wichtig zu verstehen, wie diese Praxis im bulgarischen Garten- und Haushaltsjahr verankert ist, welche zeitaufwendigen Arbeitsschritte über das ganze Jahr hinweg notwendig sind. Gerade diese geteilte, gemeinschaftliche Erfahrung der arbeitsintensiven Herstellung eigener Lebensmittel ist es, so die These, die neben religiösen, familiären und finanziellen Gründen, eine höhere Wertschätzung für diese Produkte und das „Hausgemachte“ in Südosteuropa und Bulgarien zur Folge hat – auch im post-sowjetischen Zeitalter. 
Von Monokulturen auf dem Feld zu vielfältigen Obst- und Gemüsekulturen im Glas
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Bulgarien erlangte erst 1878 die Unabhängigkeit vom Osmanischen Reich wieder, die volle Souveränität sogar erst 1908 zurück. Die großen gesellschaftlichen, landwirtschaftlichen und industriellen Umwälzungen erfassten das Land erst im 20. Jahrhundert. Bis in die 1950er-Jahre hinein war Bulgarien kleinbäuerlich organisiert, mit verhältnismäßig kleinen Anbauflächen, aber dafür mit vielen verfügbaren Arbeitskräften. Beim Anbau selbst dominierten noch Monokulturen wie Weizen, Sonnenblumen oder Tabak. Obwohl aus späterer Sicht als „landestypisch“ geltendes Gemüse wie Paprika nicht vor dem 19. Jahrhundert in Bulgarien angebaut wurde, treten bulgarische Gärtner:innen bereits um 1900 in der Habsburger-Monarchie und in Mitteleuropa als begehrte und anerkannte Fachleute auf.3 Während das Wissen über Obst- und Gartenanbau somit schon früh vorhanden war, erfolgte eine Hinwendung zu diesen Tätigkeiten in Bulgarien selbst erst in den 1920er-Jahren und damit im Rahmen der damaligen Wirtschaftskrise.
Eine interessante Quelle für diese Übergangszeit ist die Doktorarbeit des Ökonomen Wladimir Miteff von 1947 an der Hochschule für Welthandel in Wien zur „Gemüse- und Obsterzeugung und -verwertung“ sowie deren Bedeutung für die bulgarische Volkswirtschaft. Miteff bemerkte bei der Ernährung einen Zuwachs bei Obst und Gemüse gegenüber Fleisch und Fetten und sah darin auch ökonomisches Potenzial für die bulgarische Wirtschaft, vor allem für den Export dieser Agrarprodukte. Zwar hätte Bulgarien günstige Boden- und Klimabedingungen für den Obst- und Gemüseanbau. Für Ertragssteigerungen und höhere Exporte seien aber verbesserte Maßnahmen in der Landwirtschaft, staatliche Förderungen und industrielle Entwicklungen bei der Konservierung von Lebensmitteln notwendig.
Die wichtigsten Gemüsearten für die industrielle Verarbeitung waren für Miteff fadenlose grüne Bohnen, Tomaten (verarbeitet als Tomatensaft, Tomatenmark, Tomatenkonzentrat, Tomatenpüree, Tomatenteig, Tomatenmehl aus geschälten Tomaten, ganze Tomaten und Bamja, auch bekannt als Okra, mit ganzen Tomaten und Tomatensaft übergossen) sowie Paprika, letztere dienten auch als Ersatzstoff für exotische Gewürze, den sog. ‚roten Pfeffer‘ oder für Gemüse- Paprikasch Paprikasch Der Paprikasch entstammt ursprünglich aus der ungarischen Nationalküche (ungar. paprikás) und bezeichnet einen Eintopf oder Ragout, welcher überwiegend aus Paprika, Tomaten, eventuell Kartoffeln und Zwiebeln besteht und beliebig mit gewürfelten weißen Fleisch- oder Fischstücken ergänzt werden kann. In der deutschsprachigen Küche wird der Paprikasch öfters mit Sahne oder Sauerrahm verfeinert. , hergestellt aus Paprikaschoten. Wichtigste industrielle Obstprodukte waren aus Miteffs Sicht Obstpulpen Obstpulpen Die Pulpe bezeichnet das Ergebnis einer Verfahrenstechnik, bei der eine breiige Masse (bestehend aus Fruchtfleisch, Fruchtstücken und Saft), oft mit einer faserigen Konsistenz zurückbleibt. Die Pulpe gilt als Zwischenschritt zum Beispiel bei der Herstellung von Konfitüren oder der Gewinnung von Stärke aus Kartoffeln. Neben der Verarbeitung von Obst und Früchten können Pulpen auch bei Erzeugnissen der Papierindustrie vorkommen. und Kompotte aus Süß- und Sauerkirschen (Weichseln), Aprikosen, Pfirsichen, Quitten, Erdbeeren und Himbeeren. Der Anbau von Erdbeeren und Weintrauben war zu Beginn der 1930er-Jahre noch sehr gering, Pflaumen spielten nur in gedörrter Form oder als Branntwein eine gewisse Rolle.
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Gerade der Ausbau der bulgarischen Konservenindustrie ermögliche es, so Miteff, die breite Bevölkerung mit Nährstoffen und Vitaminen auch im Winter und Frühling zu versorgen. Weitere Investitionen würden es ermöglichen, die Nachfrage nach längerfristig haltbaren und teils gebrauchsfertigen Lebensmitteln zu befriedigen. Eine Voraussetzung aber, um Obst- und Gemüse verstärkt verarbeiten und exportieren zu können, sei, verstärkten Fokus auf die Konservierung zu richten und das Verderben der geernteten Produkte durch den Kontakt mit Licht, Luft und Wärme möglichst zu reduzieren.4 Ein weiterer Vorteil sei hierbei, dass der Geschmack und der Preis der Lebensmittel gleichbleiben würde. Die Konserven, so Miteff, seien als billige, gute und nahrhafte Kost zu sehen und gleichzeitig wichtig für den Export. Dagegen sei, so Miteff, der „innerbulgarische Markt zu wenig aufnahmefähig“:


Ein  weiterer Grund für den mangelnden Inlandsbedarf an den Erzeugnissen der industriellen Konservierungsfabriken liegt in dem Umstand, dass der Grossteil der bulgarischen Haushalte eine Konservierung in Dosen selbst durchführt. Die Früchte werden in grösseren Mengen eingekocht, z. B. Tomatenpüree oder verschiedene Obstmarmeladen, in Dosen oder Gläsern sterilisiert und die Familien reichen so mit diesen selbst hergestellten Konserven das Jahr über aus.5

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Folgt man Miteff, ist die Konservierung von Lebensmitteln in Bulgarien für den Eigenbedarf in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zwar weitverbreitet und fest etabliert, aber beschränkt auf das Einmachen und Trocknen von einigen wenigen ausgewählten Obst- und Gemüsesorten – vor allem von Gurken, Paprika oder Blumenkohl sowie von Äpfeln, Birnen und Pflaumen. Außerdem handelt es sich eher um eine wirtschaftliche Not(wendigkeit) und eine Maßnahme gegen Armut und Hunger, die noch keine größere Rolle im sozialen oder kulturellen Kontext spielt, geschweige denn Teil einer regionalen oder nationalen Küche ist.
Die „Ökonomie der Einmachgläser“ oder der „Weg der Pfirsiche“
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Unter der Führung der Bulgarischen Kommunistischen Partei (ab 1946) wurde eine Mechanisierung und Modernisierung der Landwirtschaft nach sowjetischen Vorbildern geplant und durchgeführt. Der Staat übernahm nun auch die Produktion, die Kontrolle, den Ankauf und den Vertrieb von landwirtschaftlichen Lebensmitteln und regulierte mit Lizenzen auch den Obst- und Gemüseanbau. Kleinere landwirtschaftliche Betriebe wurden zu größeren Einheiten (den Genossenschaften Genossenschaften Ein Zusammenschluss oder Verband von Personen zum Zweck gemeinsamen wirtschaftlichen Arbeitens. Eine Genossenschaft ergibt vor allem dort Sinn, wenn Ziele alleine nicht erreicht werden können, aber ein gewisses Maß an Selbstständigkeit erhalten bleiben soll. Im Sozialismus dienten Genossenschaften allerdings zur Aufhebung von Privatvermögen und zur Erreichung staatlich geplanter Ziele. ) zusammengefasst. Auch die Produktion von Samen und Setzlingen in Baumschulen, die Pflanzenforschung in Gartenbauinstituten und die Schulung der Bevölkerung waren staatlich organisiert, selbst die Preisgestaltung reguliert. Kurz: Der bulgarische Staat hatte in der Zeit des Sozialismus ein massives Eigeninteresse und eine aktive Rolle im Anbau von Obst und Gemüse und dessen Förderung.
Geradezu entgegengesetzt zur sozialistischen Planwirtschaft Planwirtschaft Planwirtschaft oder Zentralverwaltungswirtschaft bezeichnet eine Wirtschaftsform, bei der Entscheidungen, Vorgaben und Ziele von einer zentral verwalteten Stelle getroffen werden. Diese zentral erstellten volkswirtschaftlichen Gesamtpläne werden politisch autoritär durchgesetzt und gesteuert. Im Gegensatz zur freien Marktwirtschaft gibt es in der Planwirtschaft kein wechselseitiges System nach dem Prinzip von Angebot und Nachfrage. wirken die zunehmende landwirtschaftliche Betätigung und der Anbau von Obst und Gemüse auf kleinen, oft privat bewirtschafteten Grünflächen zur Selbstversorgung oder für den Weiterverkauf auf dem Schwarzmarkt. Die Kommunistische Partei fing jedoch ab den 1960er-Jahren an, diese – eigentlich subversive – Praxis, zu tolerieren und sogar die Zuteilung von Gartenflächen in den Städten zu steuern – und damit auch den Zugang zu kontrollieren und zu beschränken.
Neben der mangelnden Verfügbarkeit sowie der minderwertigen Qualität von im Handel erhältlichen Produkten gab es weitere Gründe für die Zunahme der eigenständigen Konservierung von Lebensmitteln im Einmachverfahren, die vor allem im Zusammenhang mit familiären Strukturen, der Mobilität und allgemein mit der räumlichen Verteilung der Familien und Haushalte zu sehen sind. Denn in Einmachgläsern konservierte Lebensmittel wurden im sozialistischen Bulgarien zu einer materiellen, symbolischen und sozialen Ressource. Während jüngere Generationen in der Hoffnung auf ein besseres Leben vom Land in die Stadt zogen, blieben meist die Älteren in den Dörfern zurück und produzierten und konservierten Obst und Gemüse. Die eingemachten Gläser wurden so zu einem soziokulturellen Kapital, das einerseits familiäre Bindungen und Freundschaften stärkte, andererseits die Lebenshaltungskosten senkte und das Leben in der Stadt überhaupt erst ermöglichte. Julijan Konstantinov (2001) spricht in diesem Zusammenhang vom „geteilten“ oder „reisenden Haushalt“. Obwohl räumlich zwischen Stadt und Land getrennt, wurde die Familie wie ein gemeinsamer, verteilter Haushalt begriffen, der mit selbst hergestellten und konservierten Lebensmitteln versorgt wurde.
Bei jedem Besuch von Verwandten wurden leere Einmachgläser ins Dorf zurückgebracht und volle in die Stadt mitgenommen. Oder aber der Versand der Lebensmittel erfolgte per Paket. Zusätzlich dazu galten Obst und Gemüse – roh oder in konservierter Form – als willkommene Geschenke und als Zeichen der Wertschätzung. Diese Art des Austauschprozesses und des privaten Warenverkehrs vom Land in die Stadt, der mithilfe eines Netzwerks aus Verwandten und Bekannten soziale Unterschiede ausgleichen (oder bei Nichtexistenz verstärken) und über Einmachgläser einen wichtigen Zugang zu wertvollen Ressourcen sichern konnte, bezeichnete Antonij Gălăbov (2001) als „Weg der Pfirsiche“. Eleanor Wenkart Smollett (1989) wiederum spricht passenderweise von einer „economy of jars“ („Ökonomie der Einmachgläser“). Schon die Herstellung der Glaskonserven war auf die materielle Unterstützung von Familie und Freunden ausgerichtet.
Einmachgläser als Teil religiöser Feste und der Balkan-Küche
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Mit den politischen und ökonomischen Umbrüchen der 1990er-Jahre erweiterte sich auch das Spektrum der Funktionen und individuellen Motive der bulgarischen Einmachkultur. Nach wie vor gelten Einmachgläser als Möglichkeit, geringe Einkommensverhältnisse aufzubessern oder Kosten zu sparen. Und nach wie vor werden Gläser an Familie und Freunde verschenkt und weitergegeben – nur, dass die Abnehmer:innen häufig nicht mehr nur in eine größere Stadt, sondern sogar ins Ausland abgewandert sind. Und vor allem die Angehörigen der älteren Generationen, die im Sozialismus aufgewachsen oder sozialisiert worden sind, produzieren weiterhin Glaskonserven – aus finanziellen Gründen oder aus alltäglicher Routine.  Neu hinzugekommen sind Aspekte des Lebensstils oder der Freizeitgestaltung. Gartenarbeit und der eigene Obst- und Gemüseanbau werden heute auch als Hobby und zur Entspannung betrieben, oder sie dienen der Selbstverwirklichung. Die Einmachkultur ist ein Teil der Do-it-yourself-Kultur geworden oder kann der bewussten Meidung industrieller Produkte dienen – gewissermaßen als Kritik und Widerstand gegen ein globalisiertes, kapitalistisches System, dem eine Mitschuld an der schlechten Qualität von Waren in Südosteuropa gegeben wird.
Ein weiterer Grund jedoch, warum Einmachgläser und Glaskonserven in Bulgarien weiterhin allgegenwärtig sind, ist, dass die so verarbeiteten Gartenprodukte längst fester Bestandteil der Balkan-Küche und der dortigen Esskultur geworden sind – sie bilden regelrecht ihre Grundlage. So gehören die Herstellung und der Verzehr von eingekochten Gläsern zum ganzjährigen und kulinarischen Alltag und zu einer familiären, kollektiven und sozialen Praxis. Die Zubereitung und der Genuss von Essen erfolgen oft kollektiv, mit der gesamten Familie, mit Freunden und Nachbarn. Und selbst, wenn die Produktion und der Verzehr eigener Lebensmittel gerade keine Rolle spielen – der eigene Garten, seine Produkte oder die Preise von Lebensmitteln sind stets ein wichtiges Gesprächsthema.6
 
Der (bulgarische) Garten und das Einmachen von Lebensmitteln in Gläser erfordern das ganze Jahr über Vorbereitungen und Arbeit.7 Letztere ist neben den jahreszeitlichen Rahmenbedingungen auch durch den orthodoxen Kirchenkalender und religiöse Feiertage geprägt. Bereits Ende Januar wird die Aussaat für die kommende Saison vorbereitet. Am 14. Februar – dem Trifon Saresan Trifon Saresan Tryphon (`der Geschnittene´) lebte im 3. Jahrhundert und wird sowohl in der katholischen, als auch orthodoxen Kirche als Märtyrer sowie Schutzheiliger der Gärtner und Winzer verehrt. Vielerorts wird in Bulgarien an diesem Tag ein Fest mit Spiel, Tanz, Musik sowie Essen und Wein gefeiert, was an Fruchtbarkeits-Riten zu Ehren Dionysos’, den griechischen Gott des Weines, erinnert. -Tag –stützt man die Weinstöcke ab und trinkt anlassbedingt Wein, möglichst aus eigener Herstellung. Während zu Beginn des Jahres (selbstgemachte) Würste und Fleischprodukte verzehrt werden, verzichtet man mit Beginn der Fastenzeit auf solche und andere tierische Produkte.
Um den Blagoveshtenie-Feiertag herum –Mariä Verkündigung am 25. März –, noch bevor die Obstbäume anfangen zu blühen, werden sie geschnitten. Zu Ostern werden Teile des Festessens mit Zutaten aus dem eigenen Garten oder aus eingemachten Gläsern zubereitet. Die eigentliche Gemüseaussaat beginnt im April mit Bohnen. Der Mai ist arbeitstechnisch intensiver, da nun fast jedes andere Gemüse – Tomaten, Paprika, Gurken, Kartoffeln, dazu Salate, Jungzwiebeln, Spinat – eingepflanzt wird, vor allem nach dem Tag des Hl. Georgi am 6. Mai. Zusätzlich werden die für die bulgarische Küche wichtige Gewürzpflanze Chubritsa (Sommer-Bohnenkraut, Satureja hortensis), gesät sowie Weinblätter eingelegt, aus denen im Jahresverlauf Sarmichki (mit Reis gefüllte Weinblätter) hergestellt werden können.
Mit dem Juni beginnt die Zeit des Einmachens. Zuerst werden Bohnen und Erbsen eingekocht, dann Essiggurken hergestellt. Anschließend werden Erdbeeren, Kirschen und Pfirsiche zu Kompott und Marmelade verarbeitet. Im Juli kommen zusätzlich noch andere Früchte (wie Marillen) hinzu und Vorbereitungen für das Lutenitsa Lutenitsa Dazu werden Tomaten und Paprika püriert und in einem großen Topf mit Zwiebeln, Knoblauch, Öl und Salz gekocht. Anschließend werden Zucker, gemahlener Pfeffer und etwas Zitrone dazugeben und nochmals 10-20 Minuten bis zur gewünschten Konsistenz aufgekocht und in kleine Gläser eingefüllt. (ein Tomaten-Paprika-Ketchup) werden getroffen. Dabei nimmt sowohl die Verarbeitung von Obst, als auch von Gemüse jeweils mehrere Tage in Anspruch. Pro Haushalt werden mehrere Hundert Gläser in riesigen, teils bereits vererbten Kochtöpfen, eingekocht. Ende Juli/Anfang August trocknet und zerkleinert man die geernteten Chubritsa-Blätter und bereitet weitere Gewürze zu. Dazu kommen weitere Früchte wie Beeren und Feigen, welche ebenfalls zu Glaskonserven verarbeitet werden.
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Der September markiert den Höhepunkt der Herstellung der Einmachgläser. Aus reifen Birnen wird Kompott gemacht, roter Paprika wird entweder mariniert, gebacken, gebraten oder eingekocht und Tomaten-Ketchup hergestellt. Zusätzlich dazu beginnt die Weinlese zur Produktion von Wein und Rakija Produktion von Wein und Rakija Eine Grundregel lautet, dass aus 3 Kilo Weintrauben 1 Liter Wein gewonnen werden kann, wobei die Menge von der verwendeten Rebsorte abhängt. Auch die Rakija-Herstellung hängt von der Wahl der Früchte ab. In einem gewöhnlichen Haushalt können pro Jahr 100-120 Liter Wein und 30-40 Liter Rakija oder mehr hergestellt und konsumiert werden. (Obstbränden). Im Oktober folgen noch die Verarbeitung von Pflaumen sowie von Karotten, Kürbissen, Mais, Kohl und Kraut. Die beiden Letztgenannten werden im November in großen Bottichen fermentiert und anschließend zu Varianten von Turschija verarbeitet, ein Begriff, der unterschiedliche Formen eingelegten Gemüses bezeichnet. Mit der Adventszeit Ende November beginnt die hauseigene Produktion von Fleisch und Würsten, die an der kalten Luft getrocknet werden. Dabei wird von den getöteten Tieren fast alles verarbeitet und genutzt. So kann auch das Fleisch mit dem zuvor hergestellten Sauerkraut wieder in den Gläsern landen.
Wie bereits zu Ostern und den anderen kirchlichen oder persönlichen Feiertagen (wie zum Beispiel an Namenstagen), wird auch zu Weihnachten Weihnachten Am Heiligen Abend (24. Dezember, „Budnij vecher“) gibt es eine ungerade Anzahl an Fastengerichten (diese stehen zahlensymbolisch in Bulgarien für Leben und Fruchtbarkeit, während gerade Zahlen für Tod und Trauer genutzt werden). Als Speisen können Wein- oder Krautblätter mit Reis, ein ohne Zugabe von Eiern hergestelltes Brot mit einer versteckten Münze (den Finder soll im nachfolgenden Jahr besonderes Glück erwarten) und eine Kürbis-Banitsa (gefülltes Blätterteig-Gebäck) dienen, die mit einem Kartoffel- oder Bohnensalat, getrockneten Früchten und Kompott serviert werden. Dagegen zeigt sich am 25. Dezember („Koleda“) ein anderes Bild: auf den Tisch können nun Fleisch mit Sauerkraut und Reis, Blutwurst, tierisches Fett („Slanina“), ein Gemüse-Mayonnaise-Salat und als süße Beilage Baklava und Buttergebäck kommen. auf die eigene Produktion sowie auf die eingemachten Gläser zurückgegriffen, angefangen von den Gewürzen, Kompott und Gemüse, bis hin zu Fleisch und Fett). Selbstgemachtes steht in Bulgarien nicht nur geschmacklich außer Konkurrenz (höchstens zu anderen selbstgemachten Produkten); es genießt eine hohe Wertschätzung, weil die Bulgar:innen die dazu notwendige, zeitaufwendige Arbeit in besonderer Form anerkennen.
Die Schwiegermutter des Autors lieferte dazu ein weiteres wichtiges Motiv für die Beibehaltung des Einmachens von Lebensmitteln in Bulgarien. Sie sei bestrebt die Rezeptur und die Qualität des Essens generationenübergreifend gleich hoch zu halten. Das Essen soll gleich schmecken. In gewisser Weise könnte man den Wunsch nach Stabilität in der Küche als Kompensation für die nicht umgesetzten politischen Versprechen seit den 1990er-Jahren sehen. Vielleicht halten Bulgar:innen auch deshalb an arbeits- und zeitintensiven Praktiken, wie eben dem Einmachen und Einlegen von Lebensmitteln, weiterhin fest.
Von Glas zu Glas zu Glas
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Das Einmachen von Lebensmitteln in Bulgarien ist mehr als die reine Bewältigung eines saisonalen Überangebots oder die kulinarische Vorbereitung auf die Wintermonate. Es ist fester Bestandteil der eigenen Esskultur. Aus einem Instrument der Selbstversorgung und der Ernährungssicherheit wurde im sozialistischen Bulgarien binnen weniger Jahrzehnte ein Mittel, um private Netzwerke zwischen Dörfern, Städten und Generationen zu erhalten und zu stärken. Selbstversorgung wurde so zu einer gesellschaftlichen und politischen Aussage. Selbst die Rückkehr zur Marktwirtschaft seit den 1990er-Jahren, verdrängte diese Praxis nicht, sondern machte es eher noch vielschichtiger. Der Geschmack und die Wertschätzung des „Hausgemachten“, der Gebrauch der Einmachgläser bei religiösen, nationalen und privaten Festen, als Geschenk oder als Teil regionaler Küchenkultur des Balkans, erklärt auch im post-sowjetischen Zeitalter die anhaltende Popularität dieser Praxis in Bulgarien.

Siehe auch