Der charmante hölzerne Bau war einst das Jagdhaus der Grafen Lehndorff. Hier traf man sich nach den großen Adelsjagden zum Essen und Feiern. Später wurde das Gebäude an einen Gastwirt verpachtet. Nach 1945 diente es als Lager, zeitweise als Dorfladen. Es verfiel nach und nach, bis eines Tages der junge Geschäftsmann Alexander Potocki vorbeikam.
Eine Ruine erwacht zu neuem Leben
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Alexander Potocki war damals Anfang dreißig. Nach einem Studium der Wirtschaftswissenschaften hatte er sich gegen eine Karriere in
Warszawa
deu. Warschau, eng. Warsaw

Warschau ist die Hauptstadt Polens und zugleich die größte Stadt des Landes (Bevölkerungszahl 2022: 1.861.975). Sie liegt in der Woiwodschaft Masowien an Polens längstem Fluss, der Weichsel. Warschau wurde erstmals Ende des 16. Jahrhunderts Hauptstadt der polnisch-litauischen Adelsrepublik und löste damit Krakau ab, das zuvor polnische Hauptstadt gewesen war. Im Rahmen der Teilungen Polen-Litauens wurde Warschau mehrfach besetzt und schließlich für elf Jahre Teil der preußischen Provinz Südpreußen. Von 1807 bis 1815 war die Stadt Hauptstadt des Herzogtums Warschau, einem kurzlebigen napoleonischen Satellitenstaat; im Anschluss des Königreichs Polen unter russischer Oberherrschaft (dem sog. Kongresspolen). Erst mit Gründung der Zweiten Polnischen Republik nach Ende des Ersten Weltkriegs war Warschau wieder Hauptstadt eines unabhängigen polnischen Staates.

Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde Warschau erst nach intensiven Kämpfen und einer mehrwöchigen Belagerung von der Wehrmacht erobert und besetzt. Schon dabei fand eine fünfstellige Zahl an Einwohnern den Tod und wurden Teile der nicht zuletzt für seine zahlreichen barocken Paläste und Parkanlagen bekannten Stadt bereits schwer beschädigt. Im Rahmen der anschließenden Unterdrückung, Verfolgung und Ermordung der polnischen und jüdischen Bevölkerung wurde mit dem Warschauer Ghetto das mit Abstand größte jüdische Ghetto unter deutscher Besatzung errichtet, das als Sammellager für mehrere hunderttausend Menschen aus Stadt, Umland und selbst dem besetzten Ausland diente und zugleich Ausgangspunkt für die Deportation in Arbeits- und Vernichtungslager war.

Infolge des Aufstandes im Warschauer Ghetto ab dem 18. April 1943 und dessen Niederschlagung Anfang Mai 1943 wurde das Ghettogebiet systematisch zerstört und seine letzten Bewohner verschleppt und ermordet. Im Sommer 1944 folgte der zwei Monate dauernde Warschauer Aufstand gegen die deutsche Besatzung, in dessen Folge fast zweihunderttausend Polen ums Leben kamen und nach dessen Niederschlagung auch das restliche Stadtgebiet Warschaus von deutschen Einheiten weitgehend und planmäßig zerstört wurde.

In der Nachkriegszeit wurden zahlreiche historische Gebäude und Teile der Innenstadt, darunter das Warschauer Königsschloss und die Altstadt, wiederaufgebaut - ein Prozess, der bis heute andauert.

entschieden. Das Landleben war sein Traum: Familie, Pferde, Hunde, ein regionales Business…
 
Das alles hatte er in
Wolhynien
eng. Volhynia, pol. Wolyń, ukr. Воли́нь, ukr. Wolyn, deu. Wolynien, lit. Voluinė, rus. Волы́нь, rus. Wolyn

Die historische Landschaft Wolhynien liegt in der nordwestlichen Ukraine an der Grenze zu Polen und Belarus. Bereits im Spätmittelalter fiel die Region an das Großfürstentum Litauen und gehörte ab 1569 für mehr als zwei Jahrhunderte zur vereinigten polnisch-litauischen Adelsrepublik. Nach den Teilungen Polen-Litauens Ende des 18. Jahrhunderts kam die Region zum Russischen Reich und wurde namensgebend für das Gouvernement Wolhynien, das bis ins frühe 20. Jahrhundert Bestand hatte. In die russische Zeit fällt auch die Einwanderung deutschsprachiger Bevölkerungsteile (der sog. Wolhyniendeutschen), die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihren Höhepunkt fand. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Wolhynien zwischen Polen und der ukrainischen Sowjetrepublik aufgeteilt, ab 1939, infolge des Hitler-Stalin-Paktes, vollständig sowjetisch und bereits 1941 von der Wehrmacht besetzt. Unter deutscher Besatzung kommt es zur systematischen Verfolgung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung sowie weiterer Bevölkerungsgruppen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg gehörte Wolhynien erneut zur Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik und seit 1992 zur Ukraine. Die Landschaft ist namensgebend für die - räumlich nicht exakt deckungsgleiche - heutige ukrainische Oblast mit der Hauptstadt Luzk (ukr. Луцьк).

gefunden. Ein Ort in der Mitte von Nirgendwo, 80 Kilometer südlich von
Sztynort
deu. Steinort, deu. Groß Steinort

Das Dorf Sztynort liegt im Norden der Masurischen Seenplatte auf der Halbinsel Jez zwischen Jezioro Mamry (Mauersee), Jezioro Dargin (Dargeinensee) und Jezioro Dobskie (Dobensee). Bis 1928 hieß das Dorf Groß Steinort, danach Steinort.

. Er hatte eine Australierin mit polnischen Wurzeln geheiratet. Zusammen mit Dorota wollte er nun ein Restaurant eröffnen. Dazu brauchten sie ein geeignetes Haus. Ein altes sollte es sein, „das in die Landschaft passt.“1  Und so machten sie sich auf die Suche.
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Der Hinweis auf das Lehndorffsche Jagdhaus kam von seiner deutschen Mutter Renate Marsch-Potocka. Schon in seiner Kindheit hatte sie Alexander und seiner Schwester davon erzählt, „von Lehndorff, Dönhoff, Widerstand gegen Hitler und all dem“. Das Jagdhaus in Sztynort, soviel wusste er, war inzwischen in einem schlechten Zustand.
 
2005, an einem Frühlingstag, es regnete in Strömen, fuhr Alexander Potocki mit seiner Frau dorthin. Völlig durchnässt standen sie vor dem gesuchten Gebäude. Eine Ruine! Ihr rechter Flügel war zusammengebrochen, drinnen türmte sich meterhoch Unrat. „Wir gingen weiter zum Schloss“, berichtet Potocki in akzentfreiem Deutsch, „durch den verwilderten Park und zurück zum Jagdhaus.“ Inzwischen war die Sonne da, „wie das so ist in Masuren, von Minute zu Minute ändert sich das Wetter“.
 
Plötzlich sagte Dorota: „Wenn Du möchtest, kannst Du es gerne probieren.“ Der Satz ist heute Familienlegende, ebenso der Kommentar von Alexander: „Und dann musste ich ihr zeigen, dass ich es kann.“
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Am Giebel, den filigranen Schnitzereien konnte man noch etwas vom vergangenen Zauber erahnen. In diesem „norwegischen Stil“ wurden im 19. Jahrhundert viele Jagdhäuser gebaut. Auch Kaiser Wilhelm II. hatte eines in der
Rominter Heide
eng. Rominte Heath, lit. Romintos giria, pol. Puszcza Romincka, eng. Romincka Forest, rus. Krasny les

Die Rominter Heide ist ein ausgedehntes Wald- und Heidegebiet, das sich entlang der polnisch-russischen Grenze im äußersten Südosten der russischen Oblast Kaliningrad bzw. im äußersten Nordosten der polnischen Woiwodschaft Ermland-Masuren erstreckt. Vor 1945 war das Gebiet Teil der preußischen Provinz Ostpreußen und bekannt als königlich-preußisches Jagdgebiet. Noch Kaiser Wilhelm II. (1859-1941) ließ hier ab 1891 ein hölzernes Jagdschloss errichten, dessen Gelände nach seinem Tod mit dem des nahen, durch die Nationalsozialisten unter Hermann Göring (1893-1946) errichteten Reichsjägerhofs Rominten zusammengeschlossen und um Bunkeranlagen und weitere Infrastruktur erweitert wurde. Göring nutzte den Reichsjägerhof und die militärischen Anlagen auch als persönliches Hauptquartier und die repräsentativen Gebäude einschließlich der Jagd selbst zur propagandistischen Selbstinszenierung.

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Nach Rücksprache mit den Denkmalbehörden wurden alle Bestandteileinventarisiert. Jeder Balken, jede Bohle bekam eine Nummer. Dann wurde alles nach Gałkowo transportiert, originalgetreu aufgebaut. Der rechte Flügel musste komplett rekonstruiert werden. Übrigens ergaben die Recherchen Potockis, dass er nicht in kommunistischer Zeit zerstört wurde, sondern schon vor Kriegsende. Offenbar lagerte dort Munition, eine Granate brachte das Depot zum Explodieren.
 
2007 eröffnete das Restaurant mit Pension. Bald zog das ehemalige Jagdhaus ruhesuchende polnische Städter an und Reisende aus Deutschland, darunter viele alte Ostpreußen und ihre Nachkommen.
 
Im Entrée hängt ein Foto des Gebäudes aus alten Zeiten, umrahmt von blühenden Kastanienbäumen.
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Die Vergangenheit ist Teil der erfolgreichen Geschäftsidee. Bewusst knüpfte Alexander Potocki an masurische Traditionen an. Zugleich wollte er seiner eigenen Familiengeschichte einen neuen Platz geben. „Ich komme aus einer etwas älteren Familie“, sagt er mit einem kleinen Lächeln.
 
In Polen kennt jedes Kind den Namen Potocki – eine der Familien des Hochadels, die sechshundert Jahre lang Geschichte gemacht hat. Ein kunstvoll gemalter Stammbaum erzählt von ihren Verbindungen zu deutschen und englischen Adelshäusern. „Meine Urururgroßmutter war eine Dönhoff.“ Den Grafentitel lässt der Hausherr weg, er selbst führt ihn nicht.
 
Wer das Haus betritt, befindet sich unversehens in einem kleinen Museum. Ahnenbilder, Jagdtrophäen, Wappen aus nicht mehr existierenden Palästen. „Der Warschauer Potocki-Palast wurde 1944 von der deutschen Wehrmacht niedergebrannt.“ Fragmente einer untergegangenen Welt, die Familie Potocki mit den Gästen teilt.
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Weil das alte Jagdhaus für den gedachten Zweck zu groß war, schlug Alexander Potocki seiner Mutter vor, im ersten Stock ihr Herzensprojekt zu verwirklichen. Renate Marsch-Potocka war gerade im Begriff, eine Gedenkstätte für die verehrte Publizistin Marion Gräfin Dönhoff zu gründen – in
Kwitajny
deu. Quittainen

Kwitajny ist ein Dorf in der polnischen Woiwodschaft Ermland-Masuren. Die erste urkundliche Erwähnung von „Groß und Klein Quittainen“ datiert auf das Jahr 1431.

, wo diese in den Kriegsjahren, bis zum Januar 1945, den Gutsbetrieb ihres Bruders leitete.
 
„Warum nicht hier, in Gałkowo?“ Und vielleicht keine Gedenkstätte, die das Tragische in den Mittelpunkt stellt, Nationalismus, Faschismus, Krieg und Vertreibung, sondern einen „Salon“, in dem Besucher gern verweilen, lesen, einander begegnen.
Marion Dönhoff Salon
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Und so geschah es. Mit dem Salon begann für Renate Marsch-Potocka ein neuer Lebensabschnitt. 2007 zog sie nach Gałkowo, zur Familie ihres Sohnes. Zweiundsiebzig war sie damals, mit Masuren schon länger vertraut. Zehn Jahre zuvor hatte sie sich im Dorf
Kossewen
deu. Rechenberg

Kosewo ist ein Dorf am Jezioro Probarskie (Probergsee) in der polnischen Woiwodschaft Ermland-Masuren, das 1546 als „Kossewen“ gegründet wurde. Von 1938 bis 1945 hieß es Rechenberg (Ostpr.) 2011 hatte Kosewo knapp über 400 Einwohner:innen.

niedergelassen, nach einem langen turbulenten Leben als dpa-Korrespondentin in Warschau. Jetzt hatte sie eine neue Aufgabe – und lebte fortan geborgen im Familienkreis.
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Zuallererst ist der Salon Bibliothek. Vieles stammt aus dem privaten Bücherschrank von Renate Potocka. Werke von Marion Dönhoff und über sie, auf Deutsch und Polnisch, Literatur über Ostpreußen, einladend präsentiert im alten Gebälk. An den Wänden Fotos, sie zeigen Marion Dönhoffs erstes Leben als ostpreußische Gräfin und ihr zweites, nach der Flucht vor der Roten Armee, 1945, ihre Karriere als Journalistin, Leiterin der Politikredaktion und spätere Mitherausgeberin der Wochenzeitung DIE ZEIT.
 
Gäste können hier nachvollziehen, welche Rolle sie für die neue deutsche Ostpolitik spielte. Wie sie von ihrer geliebten Heimat Abschied nahm und den Vertriebenen und allen Deutschen vorlebte, dass Verzicht notwendig, Versöhnung möglich ist. Ihr berühmter Satz „Vielleicht ist dies der höchste Grad der Liebe: zu lieben, ohne zu besitzen“, ist das Motto des Salons.
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Bei ihren Führungen hat Renate Potocka oft von ihren Begegnungen mit Marion Dönhoff erzählt. Die berühmte, eine Generation ältere Kollegin, war ein Vorbild für sie. Auch ihr Lebensthema war die deutsch-polnische Freundschaft, auch sie vermochte es, direkt und ohne Umschweife zu schreiben. Und Menschen auf Augenhöhe zu begegnen, den Großen dieser Welt wie ganz normalen Sterblichen.
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Was wäre das alte Jagdhaus ohne Renate Potocka? Ohne die wunderbare Zeitzeugin, die aus eigenem Erleben die Traumata des 20. Jahrhunderts kennt, und hervorragende, kritische Publizistin?
 
Im Sommer unserer Begegnung ist sie 85 Jahre alt. Ihr Augenlicht ist schwach geworden, sie wird schnell müde. Eine Weile noch wird sie das Erbe von Marion Dönhoff weitertragen. Wer wird ihre eigene Geschichte erzählen?2
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Noch gibt es keine Biografie von Renate Marsch-Potocka. Doch viele ihrer Generation in Polen und Deutschland erinnern sich an die couragierte dpa-Korrespondentin. 1965, mit neunundzwanzig Jahren, war Renate Marsch voller Abenteuerlust nach Warschau gezogen. Ohne Polnisch-Kenntnisse, ganz auf sich gestellt in einem armen, kommunistisch regierten Land, zu dem es noch keine diplomatischen Beziehungen gab. Mehr als drei Jahrzehnte lang hat sie von dort berichtet.
 
In Warschau lernte sie den Grafensohn Władysław Potocki kennen und gründete eine Familie mit ihm. Die beiden, heißt es, verband ein Trauma – ihr Vater wurde 1945 von Russen erschossen, sein Vater überlebte einige deutsche Konzentrationslager.
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Berühmt wurde sie nach 1981, als in Polen das Kriegsrecht verhängt wurde. Eine gefahrvolle Zeit – trotz Pressezensur gelang es ihr, Nachrichten außer Landes zu schmuggeln. Sie wurde Teil der politischen Opposition, half, wo immer sie konnte, stand in Beziehung zu den wichtigsten Regimegegnern, ob Lech Wałęsa, Adam Michnik, Jacek Kuroń, Władysław Bartoszewski, Tadeusz Mazowiecki, Andrzej Wajda und Andrzej Szczypiorski.
 
Kürzlich hat ein Neffe von ihr, Wolfang Crasemann, inspiriert von einem Besuch in Gałkowo, für die Familie eine erste biografische Skizze angefertigt. Hier eine Passage über die aufregenden 1980er Jahre ihres Korrespondentenlebens. Auch Sohn Alexander (Jg. 1972) erinnert sich noch daran: „Ich brauchte als Kind keine Abenteuergeschichten, ich habe diese live erlebt.“
 
Gałkowo ist in vielfacher Weise Schnittpunkt deutsch-polnischer Geschichte(n). Was konnte dem Lehndorffschen Jagdhaus Besseres passieren?
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Das Lehndorffsche Jagdhaus wird auch in Zukunft ein Erinnerungsort bleiben, nur weniger bedeutungsschwer. „Für mich ist das alles Geschichte“, sagt Alexander Potocki, „für meine Kinder alte Geschichte“. Für ihn, den dreisprachig aufgewachsenen Geschäftsmann „Muttersprache deutsch, Vatersprache polnisch, plus englisch“, ist Gałkowo: Europa, Teil der globalisierten Welt. Seine Schwester lebt in Indien. Das Servicepersonal im Restaurant kommt aus der Ukraine, mancher Gast aus Frankreich.
 
Nach seiner Definition ist das Jagdhaus heute ein Ort mit „touristischer Zukunft und historischem Background“.