Kurz nach Beginn des Krieges gegen die Ukraine formulierten verschiedene deutsche Autor:innen, wie sich Deutschland als Staat oder als Gesellschaft verhalten solle. Dieser Beitrag deckt die unterschiedlichen narrativen Strategien auf, die verwendet wurden, um literarisch auf die politische Debatte einzuwirken.
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Die deutsche Berichterstattung über den Krieg in der Ukraine ist gefiltert durch die Narrative in deutscher Sprache, die über die Ukraine, Russland und den Krieg geschrieben wurden und werden. Wer in diesen Narrativen zu Wort kommt, kann damit auch die politischen Debatten beeinflussen. Diese Stimmen nehmen dabei oft eine deutsche Perspektive ein: Das erzählende „Ich“ der Berichte, Erzählungen, Reportagen hat häufig keine Erfahrung oder Kenntnisse über die Ukraine. In Offenen Briefen wie auch in der Literatur wird das Ich oft zum Wir, das dann aus einer kollektiven Perspektive spricht. Diese Erzählperspektiven gestalten den deutschen Umgang, das Sprechen und Schreiben auf Deutsch über die Ukraine und beeinflussen damit die allgemeine Debatte für und wider ihre Unterstützung.
Wie sich Fakt und Fiktion, Ich und Wir, Literatur und Realität vermischen und die öffentliche Meinung zum Krieg beeinflussen, soll in diesem Beitrag analysiert werden. Alle literarischen Werke, die hier betrachtet werden, entstanden nach dem Februar 2022, wurden auf Deutsch publiziert und innerhalb der deutsch(sprachigen) Öffentlichkeit rezipiert. Die Texte stammen von Autor:innen, die keinen näheren Bezug zur Ukraine oder zu Russland haben, sich aber zu den Ereignissen auch öffentlich – in Zeitungen, Interviews, bei Podiumsdiskussionen äußerten und damit einen besonderen Einfluss auf die deutsche Öffentlichkeit hatten.
1 Perspektivverschiebungen: Von Tätern und Opfern
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Der Roman Zwischen Welten von Juli Zeh Juli Zeh Juli Zeh, geboren 1974 in Bonn, ist Schriftstellerin und Juristin. Ihre Bücher greifen aktuelle politische Debatten auf: Die Romane <em>Unterleuten</em> und <em>Über Menschen</em> verhandeln gesellschaftliche Spannungen in einem Dorf in Brandenburg. Immer wieder äußert sich die Autorin auch politisch in Talk-Shows und Zeitungsartikeln. und Simon Urban Simon Urban Simon Urban, geboren 1975, ist als Schriftsteller, Werbetexter und Journalist tätig. Sein Debütroman <em>Plan D</em> wurde 2011 veröffentlicht. Er studierte Germanistik und absolvierte eine Ausbildung in der Texterschmiede Hamburg. , erschienen Anfang 2023, wurde als Gesellschaftsroman, als Zeitkritik, als Kommentar aktueller Ereignisse angepriesen und stieg direkt nach Verkaufsstart auf Platz 2 der Spiegel-Bestsellerliste. Darin streiten und debattieren zwei langjährige Freunde, der Hamburger Journalist Stefan und die Bäuerin Theresa aus Brandenburg, über politische Verhältnisse und ihre aktuellen Lebensverhältnisse in fingierten Whatsapp-Nachrichten und E-Mails. Die zwei stereotyp gezeichneten Protagonist:innen werden dabei explizit als Stellvertreter:innen unterschiedlicher Meinungen innerhalb einer als gespalten geschilderten Gesellschaft charakterisiert. Hier der (pseudo-)liberale, sich feministisch und divers gebende Stefan, der in seiner schicken Einbauküche Fair-Trade-Kaffee aus der Edelkaffeemaschine schlürft, dort die ‚bodenständige‘ Bäuerin Theresa, die neben Mann, Kind und Hof auch viel Verständnis für die frustrierten Nazis und Querdenker in ihrer Nachbarschaft hat.
Der Krieg in der Ukraine ist Thema der WhatsApp-Nachrichten im Roman, an der ich kurz das Verhältnis von Opfer- und Täternarrativ illustrieren will:


„07:21 Uhr, Stefan per WhatsApp: Oh Gott. Hast du es schon gehört? Es ist wirklich passiert. Putin überfällt die Ukraine. Ich kann es nicht glauben. Niemand hier im Haus hat das für möglich gehalten. Für den Fall der Einmischung droht er den westlichen Staaten mit Konsequenzen, wie wir sie noch nie zuvor erlebt haben. Was zum Teufel soll das sein? Ein verdammter Endzeitfilm?
 
09:02 Uhr, Stefan per WhatsApp: Bin jetzt in der Redaktion. Alle sind schon da, als hätten sie es zu Hause nicht mehr ausgehalten. Fassungslose Schockstarre. Jeder hängt über seinem Handy, es wird kaum gesprochen. Nachher außerordentliche Konferenz.“

Zeh u. Urban 2023, 83.
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Der Täter wird genannt, es ist Putin, nicht Russland, der hier als Akteur bezeichnet wird. Er, Putin, drohe dann, so die Nachricht weiter, mit Konsequenzen für den Westen. Dieser Satz leitet dazu über, den Fokus auf die Auswirkungen des Angriffs für die westlichen Staaten zu verschieben. Mit nur wenigen Worten wird die Perspektive von dem eigentlichen Kriegsopfer, der Ukraine und der dort lebenden Bevölkerung, auf die westlichen Staaten, die Kolleg:innen in der Redaktion und letztlich Stefan selbst verrückt.
In der Antwort von Theresa zeigt sich die deutsche Perspektive noch deutlicher, nämlich als die von Theresa und ihren Mitarbeitern auf dem Bauernhof:


„13:38 Uhr, Theresa per WhatsApp: Sorry, aber das ist mir alles zu viel. Mir ist ganz schlecht.“ 

Zeh u. Urban 2023, 83
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Etwas später schreibt sie:


„Mein Melker Denis wollte gestern von mir wissen, in welchem Radius eine Atombombe alles zerstört, wenn sie auf Berlin fällt. Er hat mich gefragt, ob ich das im Internet für ihn nachgucken kann. Ich habe versucht, ihn zu beruhigen, während mir das Herz gegen die Brust hämmerte und sich mein Magen anfühlte, als hätte ich einen Ziegelstein verschluckt.“

Zeh u. Urban 2023, 87-88
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Innerhalb weniger Sätze und Seiten wird aus dem konkreten Kriegsausbruch in der Ukraine durch die russische Armee ein Bedrohungsszenario für die Protagonisten des Buchs in Deutschland. Weitere Erwähnungen der Ukraine im Roman folgen diesem Narrativ der Opfer-Verschiebung.
Keine Rede ist von den Angriffen auf Kyiv und zahlreiche andere ukrainische Städte am Morgen des 24. Februars 2022 oder den zivilen Todesopfern der ersten Kriegstage. Diese Strategie, hier gerechtfertigt durch die Angst vor dem Dritten Weltkrieg und der Atommacht Russland, wird in der Argumentationstheorie als derailment, als ‚Entgleisung‘ bezeichnet. ‚Derailing‘ ist eine argumentative Strategie, die eine Debatte vom eigentlichen Thema ablenkt und zu einem anderen Thema führt, das dem Diskussionspartner geeigneter scheint, die Debatte zu gewinnen. Das eigentliche Thema geht dabei verloren.
Juli Zeh äußerte sich früh und mehrfach in Stellungnahmen und Interviews zu der Position Deutschlands im Krieg in der Ukraine. Auch in den von ihr unterzeichneten Offenen Briefen wird von dem Kriegsopfer Ukraine auf das mögliche Opfer Deutschland abgelenkt. Ebenso ist derailment eine Argumentationsstrategie der Offenen Briefe gegen Waffenlieferungen,1  die u.a. von der Autorin Juli Zeh, dem Autor und Filmemacher Alexander Kluge sowie weiteren deutschen Medien- und Kulturschaffenden unterschrieben wurden.2  Im Brief zeigt schon der erste Satz, dass der real existierende Angriff auf die Ukraine auf das Risiko eines europäischen und damit deutschen Opfers ausgeweitet wird: Der Brief warnt vor dem „Risiko eines 3. Weltkrieges“.3  Im Roman spiegeln sich, über die Autorin Juli Zeh bewusst verknüpft, außerliterarische politische Meinung und innerliterarische Argumentation. Literatur und Realitätskonstruktion bestärken sich gegenseitig. Die Fiktionalität des Werks stellt sich selbst in Frage. Der Roman hilft mit, die Debatte von der Ukraine hin zu einem deutschen Opferdiskurs zu verschieben.
2 Multiperspektivität und westlicher Blick oder Fotomontagen als Argument
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Alexander Kluge Alexander Kluge Alexander Kluge, geboren 1932, ist Filmemacher, Schriftsteller, Fernsehproduzent und Rechtsanwalt.  In den 1960er und 1970er Jahren war er einer der einflussreichsten Vertreter des neuen deutschen Films. 1987 gründete er die Fernsehplattform DCTP, die auch immer wieder Inhalte von ihm zeigt. , ein weiterer Unterzeichner der Aufrufe gegen Waffenlieferungen an die Ukraine, veröffentlichte seinen Beitrag zur Kriegsliteratur im April 2023. Unter dem Titel Kriegsfibel 2023 greift er Bertolt Brechts Forderung auf, im Krieg neu lesen und schreiben zu lernen.4  Brechts Kriegsfibel,5  die 1955 erschien und Überschrift, Fotos, Gedichte, Bildunterschriften kombiniert, sollte die Seh- und Lesegewohnheiten nach dem 2. Weltkrieg neu schärfen.6
Durch diesen intertextuellen Verweis auf Brecht stellt Kluge eine Beziehung her zwischen der Nachkriegssituation in Deutschland, das als Angriffspartei den Zweiten Weltkrieg verursachte, und der aktuellen Kriegssituation in der Ukraine. Kluge verwendet, wie Brecht, Fotos und Fotocollagen mit Bildunterschriften, allerdings enthält der Band auch umfangreichere Textteile sowie QR-Codes, die zu kurzen Filmmontagen führen, die von Kluges TV-Sender DCTP gehostet werden.7  Unter der Überschrift „Station 1 ‚Der Krieg ist wieder da‘“ erzählt ein autobiographischer Ich-Erzähler, der 12-, später 13-jährige Alexander Kluge, anekdotenhaft von den Kriegserlebnissen in Halberstadt in den Jahren 1944 und 1945. Neben seiner Perspektive als Schüler, die ihn zum „Zeitzeuge[n]“8  machen sollte, kommen auch die Stimmen seiner Mutter sowie zweier anderer Mütter im Krieg vor. Die Textteile werden jeweils von einer Überschrift oder einem (fiktiven) Zitat eingeleitet.
Das erste Kapitel setzt den Ton für den Rest des Buches. Es bricht Erwartungen: es geht nicht um den Krieg in der Ukraine, also einen Krieg, der im Jahr 2023 stattfindet. Es geht um die Kriegserinnerungen des autobiographischen Erzählers aus den Jahren 1944/45. Es schafft Ambivalenzen: Durch den Titel des Buches, durch die Bilder und den Verweis auf die Filmmontagen wird indirekt auf Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine angespielt. Auf den Bildern im Buch wird zunächst nicht deutlich, um welchen Krieg es geht. Der Verweis wird erst explizit, wenn die Filmmontage sichtbar wird. In der Montage sind die Schwarz-Weiß-Fotos aus dem Buch farbig. Das Motto „Kinder sind die wahren Chronisten des Kriegs“ erscheint dort in den Farben Blau und Gelb, den Nationalfarben der Ukraine. Darauf erscheint ein Bild, das eine Zeichnung von zwei schreibenden Kindern zeigt. Es ist in den russländischen Nationalfarben rot, blau und weiß gefärbt. Die Ambivalenz wird zur Gleichsetzung: Ukrainische Kinder und russische Kinder seien in derselben Situation, alle erleben und beschreiben einen Krieg, auf den sie keinen Einfluss haben, obwohl in der Realität das Leben der ukrainischen Kinder in Gefahr ist.
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So wie, in letzter Schlussfolgerung, der 12jährige Alexander in Halberstadt im Jahr 1944. Diese historische Scheinparallele wird durch mehrere Zitate verdeutlicht. Einer deutschen Kriegsmutter legt der Erzähler in den Mund: „An einem bestimmten Punkt der Grausamkeit angekommen, ist es schon gleich, wer sie begangen hat, sie soll nur aufhören“.9 
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Dieses Argument, dass der Krieg um jeden Preis enden müsse, wiederholt sich in den zahlreichen Offenen Briefen deutscher Schriftsteller:innen und Intellektueller. In Kluges Buch wird suggeriert, dass er den Preis als deutsches Kriegskind schon bezahlt habe. Über komplexe literarische und ästhetische Verfahren – Intertextualität Intertextualität Intertextualität beschreibt Beziehungen von Texten untereinander. Mitunter können diese Textbeziehungen sehr komplex werden. Eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen kulturelle Bezüge, die durch Textbezüge entstehen können. Texte aus der Gegenwart können sich zudem auf ältere Texte beziehen, so dass auch zeitliche Bezüge hergestellt werden können. , Intermedialität Intermedialität Intermedialität ist ein Oberbegriff für Beziehungen von zwei oder mehr Medien untereinander. Dies kann beispielsweise Medienvergleiche, Medienverbindungen oder Medienkombinationen meinen. Für den Intermedialitätsbegriff existiert keine klare Definition, was dem Umstand geschuldet ist, dass es bereits keinen klaren Medienbegriff gibt. – wird das Argument ästhetisch manifestiert. Letztlich basiert es aber auf einer falschen Grundannahme: Die deutsche Perspektive bleibt bei aller (post-)modernen Komplexität historisch die Täterperspektive. Die aktuelle Situation der Ukraine als Ziel eines russischen Angriffskrieges weist keine Parallele dazu auf. Die Ukraine kommt zudem in dem Buch kaum vor, sie bleibt, wie in der farblichen Markierung des Bildes, reine Dekoration. Kluges postrealistischer, multimedialer Zugang ist ein Kommentar aus einer deutschen Befindlichkeit heraus, keine Kriegsfibel im Brecht’schen, antikapitalistischen, antifaschistischen Sinne.
3 „Czuły narrator“ und teilnehmende Beobachtung
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Bildbeschreibungen, nicht die Bilder und Fotos selbst, formen Marcel Beyers Poetikvorlesungen mit dem Titel Die tonlosen Stimmen beim Anblick der Toten auf den Straßen von Butscha (2023). Am 18. Mai 2022 beginnt er seine Vorlesung mit folgenden Worten „Ich will nichts erfinden. Ich will berichten, was ich gesehen habe“.10  Dieses Sehen ist immer vermittelt, über Fotografien, Videos, Nachrichten, Radioberichte und Social Media, die der Autor gebannt verfolgt. Er beschreibt, dass ihm an den Bildern das Fehlen der Krähen aufgefallen ist – eine Referenz auf den Essay über die Blockade von Petersburg (1921/22) des russischen Literaturtheoretikers Viktor Šklovskij.11
Gleichzeitig reflektiert er über die Beschreibung der Bilder aus der sicheren Distanz: „Es mag obszön klingen, auf die An- oder Abwesenheit von Krähen auf Fotografien […] zu achten, wenn von Bildern aus dem Krieg die Rede ist, der jetzt, unmittelbar während ich diese Sätze schreibe, mit bestialischer Wucht gegen ein Land geführt wird, das zwei Flugstunden entfernt liegt.“12 
Über die Reflexion der eigenen Position in Raum und Zeit, die Gleichzeitigkeit des Krieges und des Beobachtens aus der Distanz nähert sich Beyer dem Krieg auf verschiedenen Ebenen. Bei der Beschreibung eines verängstigten Hundes, der inmitten des Krieges von einem Mann beruhigt wird, verweist er auf die akustische Dimension, die der Fotografie fehlt, aber die Situation erklären kann.13  Die Empathie, die für Tier und Mann in diesem Bild durch die detaillierte Beschreibung entsteht, ist eine Form des zärtlichen Erzählens, wie sie von Olga Tokarczuk in ihrer Nobelpreisrede 2019 entworfen wurde: „tenderness is the art of personifying, of sharing feelings, and thus endlessly discovering similarities“.14
Beyers Texte helfen, die eigene Position des Beobachtens aus Deutschland zu reflektieren und Ähnlichkeiten zwischen den ukrainischen und deutschen Perspektiven zu sehen, ohne dabei zu belehren oder abzulenken.
Deutsche Literatur bietet also beides: einen westlichen Blick auf die Ukraine, der Opfer- und Täterperspektiven verschwimmen lässt und eine Auseinandersetzung auf Augenhöhe unmöglich macht. Und Literatur, die emphatisch in den Austausch tritt und sich der eigenen Limitierung bewusst ist.
Im Lichte der Öffentlichkeit ziehen jedoch die Texte Aufmerksamkeit auf sich, die von der Ukraine ablenken und sich lieber mit innerdeutschen Debatten beschäftigen. Zeh und Urban standen wochenlang in den Beststellerlisten. Auf diese Aufmerksamkeitslücke hinzuweisen, ist auch die Aufgabe von Literaturwissenschaft.
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Dieser Beitrag ist Teil einer Beitragsserie, die auf der Tagung Deutsche Narrative zu Russlands Krieg in der Ukraine basiert. Die Tagung fand im Rahmen der Themenwoche Krieg in der Ukraine der Volkswagenstiftung vom 22. bis 24. Februar 2023 im Schloss Herrenhausen in Hannover statt. Die Veranstalterinnen: Dr. Cornelia Ilbrig (Niedersächsische Akademie der Wissenschaften zu Göttingen), Dr. Jana-Katharina Mende (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg) und Prof. Dr. Monika Wolting (Universität Wrocław). Sowohl die Tagung als auch die Übersetzung dieses Beitrags wurden durch die Volkswagen Stiftung ermöglicht.
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